MONTAGSBLOCK /38

Vor einigen Jahren musste der brasilianische Fußballstar Neymar am Münchner Flughafen zwischenlanden. Da er mehrere Stunden zu überbrücken hatte, gleichzeitig aber Hunger und Durst verspürte, fragte er einen Taxifahrer, wo man hier in der Nähe gut essen könnte. Der Taximann fuhr Neymar samt Gefolge in eine Pizzeria, in die er als Anhänger einfacher italienischer Hausmannskost selbst gerne ging. Der Fußballer und seine Entourage verdrückten Pizza, tranken Cola, gaben Autogramme und fuhren irgendwann zum Flughafen zurück, um ihre Reise fortzusetzen. Der Pizzabäcker indes rief sofort einen Lokaljournalisten an, setzte am nächsten Tag eine „Pizza Neymar“ auf die Speisekarte und sonnte sich fortan im Ruhm des Fußballerbesuchs.

Die Geschichte erinnert ein wenig an jene touristischen Augenblicke in Großstädten, in denen man plötzlich vor einer Hausmauer steht, an der eine Inschrift zu lesen ist: „Hier lebte der Dichter Sowieso von dunnemals bis irgendwann.“ Man fühlt sich schnell in der Nähe der jeweiligen Berühmtheit, und bisweilen kommt sogar das Gefühl auf, es würde etwas Großartiges auf einen selbst abstrahlen. Vor ein paar Tagen wurde Neymar für 222 Millionen Euro von Barcelona nach Paris transferiert. Nicht nur Pizzabäcker in oberbayerischen Kreisstädten reiben sich dabei die Hände. Immerhin werden im europäischen Profifußball jährlich knapp 25 Milliarden Euro umgesetzt. Und Neymar, so die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung gestern, verdient am Tag doppelt so viel wie ein durchschnittlicher deutscher Arbeitnehmer im ganzen Jahr.

Weshalb an dieser Stelle schon einmal auf das kommende Kursbuch hingewiesen werden darf. Dort habe ich mir den Fußball als semantischen Echoraum vorgenommen, in dem seit ewigen Zeiten Absonderliches, Abstruses und Absinthiges umherirrt, bevor es die Gehirne der Fans und angeschlossener Funkhäuser aufweicht. Auf dieser Bühne treten dann lauwindige Typen wie Rummenigge, Hoeneß, Watzke oder Kind auf, die das Fußballgeschäft nicht minder hochjazzen wollen als die scharfwindigen Spielerdealer von Madrid bis Manchester.

Als Appetizer hier ein kleiner Textauszug:
„Der sogenannte ehrliche Ball-Fußball ist bedroht. Er ist längst kontaminiert von einer Clique von Vereins- und Verbandsfunktionären, Spielervermittlern, Marketing-Handlangern und Bullshitologen in den Medien. Beschmutzt von einer sie verbindenden ökonomischen Logik, die den Ball von außen lenken und steuern will.” Mit Folgen. Denn der Ball soll ihnen zufolge eben nicht mehr machen, was er will, sondern das, was der Markt und dessen Epigonen von ihm verlangen. Jetzt ereignen sich semantische Aufladungsprozesse, welche die jungfräuliche Frühmetaphorik des Fußballs grundlegend umbauen. Das Spiel wird effektiv. Effektivität über alles, weil sie Tore, Sieg und Erfolg bedeutet. Ineffektivität wiederum zieht Niederlage und Abstieg nach sich. Die Moral des Ursprünglichen geht verloren. Philipp-Daniel Fischer schreibt zu Recht: „Dementsprechend handelt es sich sowohl beim Wirtschaftssystem als auch beim Profifußball um erfolgsorientierte Systeme, welche Moral systematisch nicht realisieren können.” Der weise Max Merkel nahm unbewusst die Tragik des Ökonomischen vorweg: „Die wissen nicht einmal, dass im Ball Luft ist. Die glauben doch, der springt, weil ein Frosch drin ist.” Ein Frosch, der heute genau darauf achtet, dass das Eckige ins profitable Runde gelangt.

Mit erheblichen Bullshit-Folgen auf allen Seiten. Im sogenannten Interview danach werden heute nach jedem Spiel Trainer und Spieler in eine Art von paradoxer Selbstentlarvung geschickt, nach dem Motto „Am besten im Triumph nichts sagen”. Diese Pille danach muss das Publikum schlucken, damit sich eventueller Zweifel an der Supraökonomie nicht weiter ausbreitet. Kommentator und Spieler stehen vor überquellenden Sponsorenwänden, die beide gleichermaßen sedieren. Das Spiel wird längst nicht mehr „hochsterilisiert”, wie es einst Bruno Labbadia auszudrücken pflegte, oder gar „hochkristallisiert”, wie Torwart René Adler zu kontern wusste. Es wird semantisch so weit heruntergedimmt, bis die Worte Effektivität, Effizienz, Verein, Sieg und Niederlage jede massenhysterische Regung in einer Dauerumarmung erdrückt haben. Wie es etwa Bayerntrainer Carlo Ancelotti stellvertretend für seine Zunft im April dieses Jahres nach dem Halbfinalhinspiel gegen Real Madrid vormachte: „In der ersten Halbzeit hatten wir das Spiel unter Kontrolle, es hat aber etwas an Effizienz gefehlt.”

Während Andy Möller, der bis heute mancherorts als Heulsuse verschrien ist, immerhin noch eine andere Nuancierung ins Thema brachte: „Mein Problem ist, dass ich immer sehr selbstkritisch bin, auch mir selbst gegenüber”, ist von kritischer Distanz in unseren Tagen kaum mehr etwas zu spüren. Cristiano Ronaldo, der auf der Heulsusen-Richterskala auch weit oben zu finden ist, sagt schon mal nach Spielschluss: „Ich verspreche niemals irgendetwas. Nicht meiner Mutter. Nicht meinen Fans.” Und Lukas Podolski, einer der scharfsinnigsten Nach-dem-Spiel-Kommentatoren, sprach dereinst: „Wir müssen jetzt die Köpfe hochkrempeln – und die Ärmel auch.”

Peter Felixberger
MONTAGSBLOCK /38, 07. August 2017