MONTAGSBLOCK /36

Der G20-Gipfel in Hamburg war das harte Aufeinanderprallen zweier Narrative über die Globalisierung. Auf der einen Seite der schwarze Block als extreme Söldnervariante gegen den ungezügelten Globalkapitalismus. Auf der anderen Seite Angela Merkel und ihre überwiegend konformen Staatenlenker als extrem bewachte Hüter desselben. So beschwor man in den Messehallen den global freien Austausch von Waren, während hinter brennenden Barrikaden der zerstörerische Kapitalismus bekämpft und abgefackelt werden sollte. Beide Seiten hielten auf bizarre Weise Hof. Im Exzess entluden sich in der Schanze dann unverzeihlich Wut und Verbohrtheit. Gleichzeitig wurde in der Elbphilharmonie eine groteske Form umfassender Sedierung der Weltöffentlichkeit betrieben. Was sich unterdessen im Hintergrund abspielt, wird kaum sichtbar und thematisiert. Es geht nämlich um uralte Erzählmuster, die als Erlösungssemantik beiderseits rituell aufrechterhalten und fortgesetzt stabilisiert werden. Betrachten wir zwei antagonistische Argumentationsstränge etwas näher:

Zunächst die linksradikale Option: Als „Empire“ bezeichnen Michael Hardt und Antonio Negri diese neue Weltordnung. Der amerikanische Literaturwissenschaftler und der italienische Philosoph definieren sie als globales System, das alle Lebenswelten und Menschen zu durchdringen und sie zu vereinnahmen sucht. Jedoch nicht mehr mit den Mitteln des klassischen Imperialismus, „der stets darum bemüht war, seine Macht linear auf geschlossene Räume auszuweiten und die unterworfenen Länder zu besetzen, zu zerstören und der eigenen Souveränität zu unterwerfen“. Gemeint ist vielmehr ein imperiales Modell, das einen offenen Raum neu organisiert und unbegrenzte, vielfältige und singuläre Netzwerkbeziehungen schafft. Das Empire bewegt sich in diesem Sinne nicht mehr von innen nach außen, sondern agiert unter der einen, der einzigartigen Dunstglocke des Weltmarktes und Unternehmenskapitals – dezentralisiert und deterritorialisiert.
Hardt und Negri beschreiben diese One World als eine Herrschaftsmaschinerie ohne Zentrum, als ein Weltreich, das sich jenseits von Nationalstaat und aufklärerischer Moderne nach eigenen Gesetzen entfaltet. Dabei, so Hardt und Negri, etabliert es aber „neue Zerstörungs- und Unterdrückungsmechanismen“. Im foucaultschen Sinne durchdringt das Empire nicht nur Wirtschaft und Politik, sondern auch „Bewusstsein und Körper der Individuen“, breitet sich in diesem Sinne also nicht nur als ökonomische Kontrolle aus, sondern auch „kulturell, körperlich und subjektiv“. Im „ökonomisch-industriell-kommunikativen Apparat“ sitzt jeder wie eine Schraube im Gewinde fest. Oder anders ausgedrückt: „Heute ist es fast die gesamte Menschheit, die entweder in die Netzwerke kapitalistischer Ausbeutung integriert oder ihnen unterworfen ist.“

Im digitalen Kapitalismus hat sich im Gegenentwurf zum Empire ein neuer Semantikcontainer etabliert. Dem Bild des Festsitzens und Alternativlosen wird hier eine Welt grenzenlosen Fortschritts und innovativer Entfesselung entgegengesetzt. Gunter Dueck, früher Mathematikprofessor an der Universität Bielefeld und Cheftechnologe der IBM, hat den Übergang von der alten Industrie- zur neuen Digitalökonomie als „Supramanie“ bezeichnet. Er beschreibt damit die zur Sucht gewordene Gier nach Höherem, der Beste zu sein. Dieser Supratrieb treibe die Menschen zu Höchstleistungen. Dueck unterscheidet zwischen einer Bauerngesellschaft, in der Bauern als pflichttreue Menschen Tradition und alte Ordnung garantieren. Und einer Jägergesellschaft, in der Jäger als risikofreudige Menschen kreativ die alte Ordnung zerstören und neue Produkt- und Dienstleistungswelten erschließen. Was Bauern und Jäger auszeichnet, hat Dueck in einem fiktiven Dialog beschrieben: „Der Bauer sagt zum Jäger: Wir leben in einer Bauerngesellschaft, in der die Felder bestellt werden, damit später, viel später, reich geerntet werden kann. In dieser Gesellschaft brauchen wir keine ständige Alarmbereitschaft, weil alles sicher und ruhig ist. Wir brauchen keine impulsiven Entscheidungen, weil wir alle Zeit der Welt zum Nachdenken haben, am Abend, am Ackerrand, wenn die Arbeit getan ist. Wir brauchen keine Sinnenlust, denn die macht ungeduldig, wenn man auf die Ernte wartet. Ihr Jäger leidet an der Lust auf Beute. Aber man hat nicht Lust auf Ernte. Man wartet auf die Ernte.“

An seine Stelle tritt der neue Typ des E-Man. Es ist „der Kreative, der Authentische, der Erfinder, Innovator, Unternehmer, der Flexible, Unverwüstliche, Optimistische, Kooperative, Kommunikative“. Der Jäger verbannt einfache, sich immer wiederholende Arbeit in die Maschinen, in die Computer. „Die Computer kontrollieren die Arbeit wie sonst nur an Fließbändern … Computer regeln jetzt alle normale Arbeit. Punktum.“ Computer messen die Effizienz von Arbeit, geben Arbeitstakt und -teilung vor, überprüfen Arbeitsfortschritte. Sie ersetzen große Teile der Arbeit von Bauern. Die frei gewordene Energie versucht, das Optimale zu erreichen. Was in der Erkenntnis gipfelt: „Wir brauchen nur noch Menschen, die das Beste verbessern.“

Wenn man so will, hat man in Hamburg den Kampf zwischen Empire und Supramanie erlebt. Einerseits als brennende Hölle („Welcome to Hell“), in der Ausweglosigkeit und grenzenlose Verbitterung, aber auch Gewaltenthemmung und blinder Hass herrschen. Andererseits als grenzenloses Paradies der allerbesten Jäger, in der „die Märkte offengehalten“ und eventuelle Kollateralschäden (Flüchtlinge, Migration, Ungleichheit) im Zuge ideologischer Verbohrtheit kleingeredet werden. Eine Versöhnungssemantik ist derzeit nicht in Sicht.

Peter Felixberger
MONTAGSBLOCK /36, 10. Juli 2017