Peter Felixberger hat im letzten Montagsblock, in Nummer 34, ziemlich eindrucksvoll von seinem persönlichen 1968 berichtet. Und er hat angekündigt, dass auch das Kursbuch nächstes Jahr unter anderem eine Ausgabe zu 1968 beisteuern wird. „Bloß keine Heldenverehrung“ – ja, das haben wir uns geschworen, zugleich auch: keine Abrechnung, vielmehr den Versuch wagen, an manchen Idealen von damals anzusetzen: „der unbändige Wille zur Freiheit, sein Leben ohne Zwänge und frei führen zu dürfen“, so hat Peter Felixberger es als eine liberale Idee formuliert, die sich damals gegen eine Enge gerichtet hat, deren lebensweltliche Form wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass sich Freiheitsgrade, Freiheitswille und die Potenz eines Lebens ohne Zwänge in den letzten 50 Jahren durchgesetzt haben. Doch manche heutigen Konflikte setzen an ganz ähnlichen Fragen an. Wir würden sie heute wohl „Identitätspolitik“ nennen. Letztlich geht es fast überall darum, die Frage nach der authentischen Ansprechbarkeit kollektiver Identitäten zu klären und dafür Sprecherpositionen zu reklamieren. Es sind ganz unterschiedliche battlefields, auf denen dieser Kampf ausgetragen wird, ganz unabhängig übrigens von sozialmoralischen und politischen Milieus.
Für die Rechten ist es inzwischen nicht mehr nur die Abgrenzung des Eigenen gegen das Fremde, das es als Flüchtlingswelle und drohender Volksaustausch nach Europa schafft, sondern zunehmend die Frage nach der angemessenen Erinnerung des Nationalsozialismus – so als würden die Väter und Mütter der 68er ihre Kinder 50 Jahre später maßregeln. Für die Linken ist es oft die Frage danach, dass es am Ende nur der Nationalstaat sein kann, in dem so viel Identität herrscht, dass man Umverteilungszumutungen formulieren und legitimieren kann. Für die Identitätspolitik von (geschlechtlichen, sexuellen, pigmentierten, pathologisierten) Minderheiten ist es die Berücksichtigung in der Sprache und damit die Anerkennung als Identität. Für ein vor allem akademisches Milieu ist es ein aus der theoretischen Begründungsebene in die reale Unterscheidungspraxis ausgewanderter Universalismus, der jegliche Grenzziehung und Unterscheidung für geradezu illegitim hält, weil man ihm seine historische Relativität nachweisen kann. Und für ein frustriertes konservatives Bürgertum geht es darum, sich auf jenen Diskurssockel zu stellen, den man, etwa im Ton von Tichys Einblick und Ähnlichem, nur noch feixend stark halten kann, weil man längst vom Sockel gestoßen ist.
Man kann fast sagen: überall Identitäre, überall geschlossene Milieus, überall die Selbstbestätigung als kollektive Adressaten, die jeglichen Diskurs unmöglich machen. Es ist eine geradezu erstaunliche Wiederholung, dass sich eines der symbolträchtigsten Themen der deutschen 68er-Auseinandersetzungen heute wiederholt: die erinnernde Wiederaneignung des Holocausts. Das bringt sogar einst kluge Beobachter zu unfassbaren Dummheiten, hört man sich etwa an, was Rüdiger Safranski über Sieferles Skandalbuch Finis Germania im DLF Kultur zum Besten gab. „Ich sehe auch, dass Sieferle auf eine bestimmte Argumentation hinauswill, dass nämlich in der allgemeinen Überlieferung sich dann ein auserwähltes Volk und das extrem Böse, das Deutsche, sich gewissermaßen gegenüberstehen, auf einer metaphysischen Deutungsebene.“
Das ist identitäres Gequatsche, nichts weiter. Was soll die metaphysische Deutungsebene denn sein? Dass solche Großgestalten nicht einfach Überlieferungsgestalten sind, sondern substanzielle Einheiten, die nur metaphysisch zu deuten sind? Wäre es nur der Unsinn, der es offenkundig ist, man müsste sich nicht weiter darum kümmern – oder man könnte ihm einen Ehrenplatz im nächsten Kursbuch einräumen: das Kursbuch 191 heißt: „Bullshit. Sprech“. Aber es ist geradezu paradigmatisch dafür, dass heutige Auseinandersetzungen fast nur noch an identitären Gestalten ansetzen. Das hat für die Sprecher den Vorteil, dass sie sich in beruhigender Selbstreferenz in ihren Resonanzräumen einrichten können und die Retribalisierung öffentlicher Diskurse jeweils aus der eigenen Stammesperspektive betrachten. Felixberger und ich haben das in einem kleinen Buch im vergangenen Jahr ein Drehbuch genannt.*
Peter Felixbergers Formulierung über die Freiheit als Fokus bekommt hier erst seine besondere Bedeutung. Es geht nämlich tatsächlich darum, die Bedingungen für jenes Versprechen auszuloten, dass sich die Gesellschaft nicht nur in Humankategorien und Gruppenidentitäten beschreiben lässt, sondern ganz andere Probleme hat. Die Beschreibung in Humankategorien ist ein Ausweichen davor, dass es Steuerungs- und Anpassungsprobleme ganz anderer Natur gibt. All das ist nur ein Geplänkel, das dazu dient, sich die Welt in sichtbaren Kategorien einzurichten. Dann faseln die einen über den Schuldkult der Deutschen und klagen die political correctness an, die anderen wissen aber genau, wer wie angesprochen werden muss, die Dritten wissen schon immer, wie man Solidarität erzeugt, wieder andere wussten es ohnehin immer schon.
1968 ist es gelungen, die Gesellschaft auf die Bedingungen ihrer Enge und auf die Möglichkeit kultureller Pluralität hinzuweisen. 2018, 50 Jahre später, muss man die Freiheit haben, die Pluralitäten der heutigen Identitätspolitiken infrage zu stellen, und die Gesellschaft darauf hinweisen, dass ihre Selbstgefährdung an einer Eigendynamik liegt, die so gut wie gar nichts mit diesen identitären Geplänkeln zu tun hat, mit denen wir uns zunehmend ziemlich unruhig beruhigen. „Ausmisten“, sagt Peter Felixberger. Recht hat er – ausmisten im Stall der bequemen Selbstverständlichkeiten, wo der Feind steht.
Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK /35, 26. Juni 2017
* Peter Felixberger und Armin Nassehi: Deutschland. Ein Drehbuch. Hamburg: Edition Kursbuch 2016.