MONTAGSBLOCK /34

Mein 1968

1968 war ich acht Jahre alt. Besser gesagt: Ich wurde es erst in fünf Tagen, nachdem russische Panzer in der damaligen Tschechoslowakei aufgefahren waren, um den Prager Frühling abzuwürgen. Genau am 21. August 1968. Fast 50 Jahre sind seither vergangen. Schüchterne Rückblicke im Kopf: ein dunkelblauer Fiat 128, drei Kinder samt Mutter auf der Rückbank, starrer Blick in einen verregneten Augustmorgen, Panzer in der tschechischen Provinz.

Eine Woche vorher waren wir eingereist. Eine klassische Babyboomerfamilie aus der Bundesrepublik, die Mutter mit sudetendeutschen Wurzeln. Tante Maritsch hieß unsere Gastgeberin mit funkelndem Goldzahn. Irgendwo an einer kleinen Straße in einem gelben Haus. Herrliche Sommertage, eine große Streuobstwiese, Powidl, Unbeschwertheit. Aber auch fremde Verwandtschaft, die meine Eltern und uns umarmte. Meine Geschwister und ich zwischen Neugier und Panik. „Wann fahren wir endlich wieder heim?“

Dann weckte uns die Tante eines Tages um vier Uhr morgens. „Ihr müsst los, weg von hier. Zur Grenze, möglichst schnell.“ Ein lautes Radio spuckte tschechische Wörter im Stakkato aus. Ab in den Fiat, Tante Maritsch vorne in unserem Auto. Bald tauchten die ersten Panzer am Straßenrand auf. „Schneller“, rief die Tante. Meine Eltern habe ich irgendwie ruhig in Erinnerung. Kurz vor der Grenze stieg Tante Maritsch einfach aus. „Fahrt schnell über die Grenze.“ Wir stotterten dem Schlagbaum entgegen. Dann Hektik bei den Grenzern, Achselzucken beim Vater. Regnete es wirklich an diesem Tag oder nur in meiner Erinnerung? Langsam quälten wir uns hinter den Schlagbaum. Wir waren eines der letzten Autos, bevor die Grenze geschlossen wurde. Wie Tante Maritsch zu ihrem Haus zurückkam, weiß ich nicht mehr. In der Erinnerung blieb sie jene mutige, starke Frau, der wir unsere Ausreise verdankten.

Meine Sozialisation nach unserem CSSR-Abenteuer war irgendwie typisch für meine Kohorte: bayerisches Gymnasium, Bildungsfahrstuhl, Anti-AKW-Großprojekte-Strauß-und CSU-Bewegung, Buchhändler und Student in München… „Die mit Helm links, die ohne rechts“, riefen uns Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit im Frankfurter Wald zur Startbahn West später zu – die 68er gaben den Ton an. In der Schule hörte ich zum ersten Mal Resolution und Revolution.

Im Gepäck fortan die 68er-Vorbilder und ihre planierten Diskurspfade, auf denen man politisch so korrekt und leichtfüßig wandelte. Kaum ideologische Gegenwehr im Hometurf. Keine Frage: Unsere 68er-Freunde sind und waren aufrechte Menschen im Biotop. Den Zeigefinger in die „richtige“ Richtung. Jüngst war ich auf einer Beerdigung eines alten 68er-Freundes. Nach dem Zeremoniell traf man sich selbstredend in einer proletarischen Kneipe. Es wurden Wurstbrötchen gereicht, die Unantastbarkeit der reinen Ideologie betont und auf das „Dass-es-noch-nicht-vorbei-ist“ getrunken. Als ehemaliger achtjähriger 68er fühlte ich mich dennoch fremd. Denn in ihren Augen war ich nur eine Randnotiz. Ein temporärer Mitläufer. Die Last der späten Geburt. Zehn Jahre zu spät, um mitreden und mitfühlen zu können. „Du bist keiner von uns“, plärrten sie mir stumm entgegen. Seitdem weiß ich wieder, wie es sich anfühlt, ein Post-68er zu sein.

Ja, ich bin 1968 nicht nur über die eiserne tschechoslowakische Grenze rüber. Ich habe später auch die bleierne 68er-Grenze hinter mir gelassen, bin abtrünnig geworden und habe mich in die schillernd bunte Projektewelt der Institutionen, Unternehmen und Organisationen begeben. Aber auch dort wurde ich nie ein Herzstück der Erzählung. Lieber fremd. Marschiert bin ich schon zweimal nicht. Flaniert eher. Für mich zählte die kritische Unabhängigkeit gegenüber den Verlockungen des Eindeutigen. Und gleichzeitig die Sehnsucht nach komplexeren Aufgaben und Herausforderungen. Dabei entdeckte ich mich selbst. Eine Lebensaufgabe.

Frei sein, ungebunden sein und aufrecht bleiben. Danke, 68er, ihr habt uns ein wenig den Marsch geblasen. Aber mehr nicht. Ich gebe es vollumfänglich zu: Am Ende habe ich mich eher für mich selbst interessiert, wenn ich ehrlich bin. Ich war neugierig auf die Irrungen und Wirrungen als Grenzgänger und Entdecker. Nur nicht dazugehören. Egozentriker, kann man mir gerne zurufen. Doch diese Abenteuer haben mich mehr gereizt als ein Leben in vermeintlich ideologischer Gewissheit und Opposition. Obwohl ich mich familienbiografisch ebenso am Stahlbeton des Systems abzuarbeiten hatte wie im Haifischbecken als Lektor, Publizist und Medienentwickler. Ausmisten, nicht mehr.

Nächstes Jahr werden wir im Kursbuch eine Ausgabe zu 1968 machen. „Nur keine Heldenerzählungen“, hieß es übereinstimmend in der ersten Redaktionssitzung. Was aber interessiert uns dann noch an 1968? An diesem Punkt treffen wir uns wieder mit den Helden von einst: der unbändige Wille zur Freiheit, sein Leben ohne Zwänge und frei führen zu dürfen. Genau das haben die 68er gepredigt, indes haben sich manche an ihrer aufgekochten Tugendsuppe irgendwann den Mund verbrannt. Aber vielerorts aufrecht stehend in den Letzte-Stunde-der-Wahrheit-Kantinen. Hut ziehen, immer noch.

Tante Maritsch ist längst tot. Die alte CSSR auch. Ich bin seit 1968 nie mehr dort gewesen.

Peter Felixberger
MONTAGSBLOCK /34, 12. Juni 2017