Montagsblock /313

Ich hätte es ahnen können, als ich gestern Morgen bei der sonntäglichen Zeitungslektüre aus staatsbürgerlichem Pflichtbewusstsein den Entschluss fasste, ein zwei Seiten langes Interview mit Friedrich Merz in der FAS zu lesen. Ahnen, dass unsere deutschen Politiker der demokratischen Mitte zwar natürlich sehr viel angenehmer und rationaler sind als ihre populistisch-autoritären Kollegen anderswo. Dass das allein aber die Lektüre dieses Interviews trotzdem zu keinem Vergnügen machen würde. Die Einsicht kam allerdings schnell. Genaugenommen nach dem ersten Satz der Antwort auf die Einstiegsfrage, was die Gründe für das zweitschlechteste Wahlergebnis der Union in ihrer Geschichte gewesen sein könnten. Die Antwort: „Zunächst einmal: Wir haben die Bundestagswahl gewonnen, und wir haben sie mit klarem Abstand vor allen anderen gewonnen.“

Alles super also. Alles richtig gemacht. Und wenn vielleicht unter Umständen doch die Erwartungen nicht ganz erfüllt wurden, dann lag das natürlich an den anderen. An den Demos „gegen rechts“ insbesondere, wie sich zwei Fragen weiter zeigt. Gut, dass dem jetzt nachgegangen wird. Denn irgendeinen Grund muss das relativ schlechte Abschneiden der Union ja haben. Sonst gab es schließlich nichts, was man potentiell als Grund in Erwägung ziehen könnte. In diesem selbstgefälligen Stil geht es bis zum Schluss weiter, nur sobald es um außenpolitische Fragen geht, wird es etwas erträglicher. Friedrich Merz ist mit so einer kommunikativen Strategie, in der Selbstkritik nicht im Traum als Option enthalten ist, natürlich nicht allein. Am Wahlabend gab es das bei den meisten seiner Kolleginnen und Kollegen zu bewundern. Nicht zuletzt Olaf Scholz hat in dieser Disziplin bekanntlich eine Meisterschaft entwickelt, aber auch Christian Lindner und Robert Habeck ist deren Beherrschung keineswegs fremd.

Mich nervt das derzeit maßlos. Warum immer gleich in die rhetorische Selbstverteidigung gehen? Warum nicht mal sagen: Ja, vielleicht haben wir auch Fehler gemacht. Oder: Ja, ich weiß auch nicht, ich muss da nochmal drüber nachdenken, was falsch gelaufen ist. Zumal in einer Situation, in der sich unsere Demokratie so unter Druck befindet und uns täglich Nachrichten über neue Alptraumentwicklungen aus den Vereinigten Staaten erreichen. Kann man sich da nicht einmal aus der eigenen Eitelkeit und Taktiererei befreien?

Ich persönlich finde die Fragen, wo die eigenen blinden Flecken sitzen, wo man selbst etwas übersehen oder falsch gemacht hat, viel interessanter als die Perfektionierung von Verteidigungsstrategien. Insbesondere in Bezug auf die Pandemieaufarbeitung sind das die Fragen, die mich besonders umtreiben. Ich habe darüber ja auch an dieser Stelle schon mehrfach geschrieben: Über mangelndes Zuhören, Ungeduld mit denjenigen, die zurecht von all dem Neuen überfordert waren, über Ignorieren von Ängsten und fehlende Diskussionen über all das Soziale, Kulturelle und Ethische, das nicht quantifiziert und modelliert werden konnte. Kritischer Selbstangriff statt blinder Verteidigungsreflex.

Gleichzeitig ist das aber völlig naiv. Denn natürlich erlebe ich auch, wie von der Seite der Elitenkritiker, der Populisten, der Feinde eines rationalen Diskurses genau damit gerechnet wird: Dass man durch solche Bereitschaft zur Selbstkritik unfairen Angriffen Tor und Tür öffnet. „Seht ihr, sie geben es doch selbst zu, dass sie uns Unrecht getan haben und wir ihnen nicht vertrauen können!“ Gerade in Bezug auf die Wissenschaft, deren Paradedisziplin traditionell die kritische Selbstbefragung und -anpassung ist, konnte man sehen, wohin das führt. Ihre Stärke, Irrtümer vor dem Hintergrund neuer Informationen fortwährend zu korrigieren, wurde während der Pandemie in eine angebliche Schwäche umgemünzt: „Immer wieder haben sie ihre Meinung geändert, offensichtlich wissen es die Wissenschaftler auch nicht besser.“

Leben wir also in einer Zeit, in der wir vor lauter Angriffen in die permanente Verteidigung gezwungen werden, so sehr, dass wir zu kaum noch dazu kommen, vernünftig und auch selbstkritisch ins Gespräch zu kommen? Dabei gäbe es so viele wichtige Anlässe. Zum Beispiel könnte man darüber diskutieren, was wirklich wichtig zu verteidigen ist – wichtiger auch als sich selbst. Da gibt es offensichtlich eine Menge Dinge, Konzepte, Ideen. Und dann natürlich darüber, wie man diese Verteidigung am besten anstellt. Und wo es in anderen Kontexten Strategien dafür gibt, von denen man vielleicht lernen kann.

Am kommenden Donnerstag, den 6. März, kommt das nächste Kursbuch 221 zum Thema Verteidigung heraus. Und wir hoffen sehr, dass es in der Lage ist, viele Gespräche über all diese Themen und Fragen anzuregen.

Sibylle Anderl, Montagsblock /313

03. März 2025