Montagsblock /308

Inzwischen hat der Wahlkampf Fahrt aufgenommen, ein schwieriger Wahlkampf, da die erwartbaren Machtoptionen sehr unübersichtlich sind. Das liegt natürlich auch daran, dass mit AfD und BSW zwei politische Spieler im Bundestag erwartet werden, gegen die eine Regierung gebildet werden muss. Es ist nicht nur so, dass über ein Viertel der Stimmen bzw. der Sitze im Bundestag aus dem Pool entfallen, aus dem man Mehrheiten bilden muss. Es ist auch so, dass innerhalb dieses Pools wenig Bereitschaft zu herrschen scheint, mit Kompatibilitäten bei allen (notwendigen!) Unterschieden zu rechnen oder diese offensiver in den Raum zu stellen. Das trägt noch dazu bei, dass dieses gute Viertel geradezu genüsslich eine Art Opferrolle auskosten kann, man werde undemokratischerweise bei der Mehrheitsfindung nicht einmal prinzipiell berücksichtigt.

Man könnte daraus den demokratietheoretischen Schluss ziehen, dass die prinzipielle Nichtberücksichtigung dieses Viertels undemokratisch sei. Das wäre auch so, wäre das Demokratische schon ausreichend mit dem Mehrheitsprinzip beschrieben. Die Bibliotheken über diese Engführung sind voll – von Aristoteles über Tocqueville bis heute. Auch darüber, dass die Gefahr der Ermittlung von Machtpositionen über das Mehrheitsprinzip am Ende eine demokratische Abschaffung jenes demokratischen Prinzips zur Folge haben kann, auch die unterlegene Seite loyal zu halten und als prinzipielle Machtalternative anzuerkennen.

Das Auftauchen von rechtspopulistischen Parteien in vielen europäischen Ländern hat die parlamentarischen Wahlen, Verfahren und Routinen ziemlich auf den Kopf gestellt – aber während die Strategien etwa von Meloni in Italien oder auch Le Pen in Frankreich darauf zielen, sich für gemäßigte Wählergruppen wählbar zu machen, die politische Mitte zu besetzen und eher in konkreten, langsamen, übersichtlichen Schritten die Grenzen des Sagbaren zu verschieben und den Anschein von Angemessenheit anzudeuten, ist die Strategie der AfD anders: Sie radikalisiert sich parallel zu ihren Umfrage- und Wahlerfolgen so sehr, dass sie etwa für die Rechtspopulisten im Europaparlament kaum satisfaktionsfähig sind.

Wer Zweifel an dieser Diagnose hatte, höre die Rede der Spitzen-, jetzt Kanzlerkandidatin dieser rechtsradikalen Partei, die auf der Klaviatur der Unsagbarkeiten ebenso spielen kann wie auf der, sich als Opfer eines Mainstreams darzustellen, der ihr ihre demokratischen Rechte verweigert. In dieser Rede hat Alice Weidel – „Al(les)ice für Deutschland“ – einen Ton angeschlagen, der nicht einmal in die Nähe des Verdachts kommen könnte, für mitte-rechts-orientierte Wählerinnen und Wähler auch nur ansatzweise akzeptabel zu sein. Es war eine ekelhafte Rede, das Gesicht der Rednerin zur Fratze erstarrt, von Hass zerfressen und in den Inhalten dümmer, als man es sich auch mit viel Fantasie vorstellen konnte.

Und doch: Es funktioniert. Bei allen Diskussionen über ein Verbot der AfD, über die Beobachtung der Organisation durch Verfassungsschutzbehörden, bei aller Marginalisierung der Partei aus Ämtern und Funktionen scheinen sich diese Leute tatsächlich ihrer Sache sicher zu sein. Sie machen nicht einmal den Versuch, sich zu mäßigen, sie wollen keine Wölfe im Schafspelz sein, sondern ihre Lupizität vor Publikum ausleben.

Das ist vielleicht das Frappierende an der ganzen Sache – sie verstellen sich nicht. So unsagbar und unerwartbar, so wenig satisfaktionsfähig und ernst zu nehmen die Dinge inhaltlich sind, so wenig scheint das für die Sprecher ein Problem zu sein. Das bedeutet dann aber, dass die kommunizierten Inhalte für Gegenargumente, für Widerlegung oder auch nur Verunsicherung erreichbar wären. Man wird diese Leute nicht dadurch erreichen, dass man sie widerlegt – im Gegenteil, die Widerlegung stabilisiert die Distinktion. Das Demokratieproblem besteht also nicht nur darin, dass dieses Viertel des Spektrums herausfällt, sondern warum es herausfällt: weil es mit den Mitteln politischer Unterscheidungen und Routinen gar nicht erreichbar ist. Das heißt: Die Mechanismen der Verarbeitung politischer Inhalte und Informationen können solche Formen der politischen Selbstimmunisierung gar nicht erreichen.

Das kommende Kursbuch wird sich mit verschiedenen Dimensionen der „Verteidigung“ beschäftigen, unter anderem auch, wie man die Demokratie verteidigen kann, die liberale, die pluralistische, die parlamentarische, die wechselsensible Demokratie. Die erwartbaren Tools der Verteidigung der Demokratie setzen die Formen der Demokratie, die Deliberation, die Erreichbarkeit des Gegners und das Schema von komplementären Ansichten voraus, die sich der Logik von Regierung/Opposition oder Ähnlichem fügen. Hier haben wir es aber nicht mit einer Opposition innerhalb des politischen Prozesses zu tun, sondern eher mit einer internen und externen Opposition gleichermaßen. Es ist eine Opposition gegen das politische System innerhalb des politischen Systems – zumindest geriert sich die AfD so. Dass all das zum politischen System gehört, versteht sich von selbst.

Worin bestehen Verteidigungsstrategien, wenn das bessere Argument und die Widerlegung ebenso untauglich erscheint wie eine Ignorierung des Problems. Vielleicht läge eine demokratische Verteidigung der Demokratie am Ende nur darin, wie man diejenigen (zurück-)gewinnt, die diesen Leuten Wählerstimmen geben, ohne die unsäglichen Sätze der Unsäglichen zu wiederholen. Denn sie müssen ja irgendein Bedürfnis oder irgendeine Plausibilität ansprechen, ohne die es diese Stimmen nicht gäbe. Gibt es eine Antwort auf diese Frage?

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass dieser Montagsblock an dem Tag erscheint, an dem Donald J. Trump zum zweiten Mal als Präsident inauguriert wird. Er ist demokratisch in dieses Amt gekommen, aber schon die Tatsache, dass er und seine Anhänger ein anderes Wahlergebnis wohl nicht akzeptiert und anerkannt hätten, macht diesen ganzen Prozess zu einem undemokratischen Prozess. Das ist die ganze Parabel auf das, worum es hier geht.

Armin Nassehi, Montagsblock /308

20. Januar 2025