Montagsblock /309

Wir sind im Zeitalter des „Wer-kann-diesen-Irren-überhaupt-verstehen?“ angekommen. Ohne darauf gleich eine schlüssige Antwort zu haben, erinnere ich mich an eine frühere sozialtheoretische Debatte über das Verstehen fremden Denkens, die man unter dem Titel „Der Wissenschaftler und das Irrationale“ zusammengefasst hat. Das damalige Paradigma im Hinblick auf Rationalität basierte auf der Vorstellung, dass menschliches Verhalten zielgerichtet sei, Menschen bestimmte Zwecke vor Augen haben und ihr Verhalten diese Zwecke erreichen möchte. Eine Handlung galt als verstanden, wenn man erstens das Ziel kenne, auf das sie gerichtet sei, und zweitens wisse, wie im Bewusstsein des Handelnden diese bestimmte Handlung zum Ziel führe. In dieser Motivationsanalyse galt das Interesse den Gründen, Absichten, Interessen, Regungen, Trieben und Wünschen, welche die Menschen jeweilig antreiben, das zu tun, was sie tun. Auf diese Weise war man in der Lage, einen indianischen Regentanz genauso gut erklären zu können wie den Rachefeldzug des Grafen von Monte Christo (siehe aktuelle Literaturverfilmung von Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière). Eine universale Rationalität und Realität war in dieser Denkfigur nicht vorgesehen. Es galt vielmehr ein fröhlicher Relativismus, der uns in die Lage versetzen würde, selbst das fremdmöglichste Denken nachzuvollziehen.

Kurzer Beweisschwenk in die westaustralische Wüste. Bei den Mardudjara führt man Fieber auf schlechtes oder heißes Blut zurück. Die Heilmethode besteht nun darin, dem Patienten Blut abzuzapfen und es in den Schatten zu stellen, damit es abkühlen kann. Es soll dem Patienten Kühlung verschaffen, ohne dass es ihm wieder zugeführt wird. Peter Winch schrieb: „Die von primitiven Völkern verwendeten Konzepte können nur im Kontext der Lebensweise dieser Völker interpretiert werden.“ So wird jeder Starrsinn von der Starre befreit. Barry Barnes wiederum hat dann Anfang der 1970er Jahre hinzugefügt, dass es vor allem private Wahrheits- und Rationalitätskriterien sind, die Glaubenssysteme stabilisieren. So entstand die relativistische Doktrin, unsere je eigenen kognitiven Annahmen vorübergehend zu suspendieren, um das fremde, magische und mystische Denken zu verstehen. Und so rufen wir bejahend im Chor: In der australischen Wüste wirkt das Kühlstellen von Blut in der Tat fiebersenkend.

Nun zu Ronald McTrump. Er bewohnt als Mensch mit oranger Hautfarbe eine ähnlich separate Realität, in der er jegliche gemeinsame Konzepte und Erfahrungen mit Fremden und Gegnern leugnet. Dabei pflegt er eine kontra-intuitive Selbstbezogenheit, die ihm eine scheinrationale Überlegenheit verleiht. In diesem Sinne ist er ein Bruder im indigenen Volksgeist in Französisch-Polynesien. Und er imitiert die Spielidee: Kräuterarzneien werden dort nach feststehenden Rezepten zubereitet, in denen die Anzahl der Blätter und die Menge des Wassers festgelegt sind. Letztere wird allerdings über die das erste, zweite oder dritte Glied des Zeigefingerknochens gerechnet. Es ist immer gleich (beispielsweise ein Fingerknochen Wasser auf zwei Kräuterblätter), egal wie klein oder groß das Gefäß ist, in dem die Rezeptur zubereitet wird. Nach unseren Maßstäben ist diese Konzeption des Handelnden irrational, weil in einem größeren Gefäß die Intensität der Arznei abnehmen müsste. Für die Menschen auf der Insel Rapa ist die Quantität hingegen nicht von entscheidender Qualität. Einmal festgelegt, immer richtig!

Und damit ein herzliches Willkommen zu Ronald McTrump‘s Magical World! Die eigene Welt wird zur epistemologischen Festung erklärt. Das Dilemma zeichnet sich markant ab: Wie sollen wir künftig das Verhalten von Ronald McTrump bewerten, wenn das Verhalten, das wir erklären möchten, auf Ideen und Glaubensvorstellungen beruht, die für uns falsch oder irrational sind?

Epistemologisch haben wir nur zwei Möglichkeiten. Erstens: Wir suspendieren selbst unsere eigenen Kategorien und übernehmen, zumindest für eine bestimmte Zeitspanne, das Verständnis des Fremden und Fremdartigen. Wir umarmen sozusagen den Feind so lange, bis er schweigt (chinesische Strategem-Lehre). Das kann dauern und wenig bewirken. Zweitens: Wir qualifizieren aufgrund unserer eigenen Kategorien das fremde Denken und Handeln als irrig und verfehlt ab, und lassen es auf sich beruhen, da es einer weiteren Betrachtung nicht wert ist. Dann aber können wir nichts tun, um es zu ändern (deutsches Strategiedenken).

Mögen interessante Zeiten auf uns zukommen!

Peter Felixberger, Montagsblock /309

27. Januar 2025