Langsam kommt der Wahlkampf in Schwung. Die Protagonisten schwelgen in der Unfehlbarkeit ihrer Überzeugungen und Argumente. Egal, welcher politischen Partei sie angehören. Wie nützlich: Das Ja zu sich selbst erzeugt das butterweiche Nein zur gegnerischen Position. Maulheld meets Tünkram. Es ist das priesterliche Hochamt des eindeutigen Urteilens, des wahrhaftigen Überzeugtseins und des kraftvollen Ja zur eigenen Conclusio. Inklusive eines zähflüssigen Verachtungsaufstrichs für den politischen Gegner. Das Risiko hingegen, nur ein Dünnbrettbohrer voller Illusionen und Irrtümer zu sein, der erkennt, dass die eigene Überzeugung auf tönernen Füßen stehen könnte, wird mit heroisch-plakativer Wahlkampf-PR übertüncht. „Ein Mann, ein Wort.“
Gegenwart, du gähnend langweilige Medialisierung. Wir reisen deshalb zum tieferen Räsonieren ins Jahr 1960. An der Pariser Sorbonne hält ein junger Assistenzprofessor seine ersten Vorlesungen: Jacques Derrida. Vier Sitzungen widmet der Philosoph einem Kernsatz seines Kollegen Alain: „Denken heißt Nein sagen“. Per Hand hat Derrida die Vorlesung auf Fakultätspapier geschrieben. Mittlerweile liegt das Manuskript in Buchform vor, gleichwohl Derridas Handschrift noch immer nicht vollständig bis ins letzte Wort dechiffriert werden konnte. Die Sauklaue des Meisterdenkers ist legendär.
In der felsenfesten Überzeugung des Ja sieht Derrida den Endpunkt des Denkens. Wer unumstößlich Ja sagt, hat seinen Denkprozess in letzter Überzeugung abgeschlossen. Im ausschließlichen Ja findet der Mensch seine letzte Ruhe und verlässt die bumpy road des Nein-Zweifelns. In der sanften Selbstübereinstimmung findet das Denken seine finale Bestimmung. Kein Ausweg. Sackgasse. Es gibt seine Suche auf und gibt sich dem Schlummer des Glaubens hin. „Ich glaube“ ist nicht ohne Grund das einschläfernde Mantra der Gegenwart.
Das hat Folgen, auch für unsere tapferen Wahlkämpfer in diesen Wintertagen. „Ja sagen, das heißt, den Kopf zum Schlaf und zur Knechtschaft neigen … das heißt aufhören, aufmerksam zu sein.“ Die Billigung, so Derrida, „ist ein Schlummer des Denkens, das von dem Moment an, in dem es zugestimmt hat, nicht mehr Herr seiner selbst ist, seine Machtbefugnisse abgegeben hat.“ Alain spielt ebenfalls mit dieser Unterscheidung des Wachens und Schlafens. „Beachten Sie, dass das Zeichen des Ja das eines Menschen ist, der einschläft; das Erwachen hingegen schüttelt den Kopf und sagt Nein.“ Das Ja ergibt sich der starren Abschlussevidenz des Wahren. Das Was-ist-Was?-Dies-ist-das!-Denken sucht die finale Beruhigung und Zustimmung. Bürger beklatschen die indikativen Kurzschlüsse der Wahlprogramme. Hossa, die haben sowas von recht.
Bewusstseinstrübung meets schlafende Passivität. Der Wahlkämpfer glaubt, dass die Dinge so sind, wie sie erscheinen. Deshalb, so Alain, nehme es nur die „eigenen Phantasmen wahr. Das heißt nichts.“ Mit Folgen: Denn die Einbildungskraft dominiert fortan das Zeitgespräch und weist den Verstand in die Schranken. Alles wirkt seltsam erhaben und wahr (Söder-Effekt). Doch die Möglichkeit der Enttäuschung und des Scheins können nur in einer Nein-Kultur gepflegt werden. Das nennt Kant übrigens den Verstand, welcher der eigenen Blindheit zur Seite steht und möglicherweise Täuschungen und Irrtümer entlarvt. Doch dieser Nein-Verstand verliert sich in den aufgetürmten PR-Barrikaden politischer Prediger.
Derrida zieht genau an dieser Stelle die Nein-Schlinge zu. „Der Prediger ist kein Herr und Meister des Irrtums, sondern ein Herr und Meister des Glaubens. Das Dogma ist seinem Wesen und seiner Etymologie nach das, was man glaubt, der Gegenstand einer doxa. Nun bedeutet aber doxa sowohl Glauben als auch Meinung im Sinne von Zustimmen, das heißt Ja sagen.“ Denken aber heißt prüfen und die Autorität der Gewissheit in Frage zu stellen. Nein zum Prediger sagen, bedeutet daher, den Sinn zu suchen. In dieser Zone kann der Mensch autark und autonom bleiben. Das Nein zum Prediger ist ein Nein zum dogmatischen Selbst. Und „selbst, wenn das, was ich glaube, wahr ist, befindet sich mein Denken im Irrtum.“ Es verfehlt sich sozusagen selbst. „Glauben heißt, nicht frei zu sein, zu urteilen.“
In diesem Sinne könnte unser aller persönliche Wahlentscheidung am 23. Februar auf einem Nein-Denken beruhen. Wir durchforsten die Wahlprogramme nach dem niedrigsten Prediger-Index und den zugehörigen Glaubenspillen und Dogma-Infusionen. In der Überzeugung, wer glaubt, hat aufgehört zu denken, suchen wir den Zweifler. Oder wie Alain sagt: „Der Zweifel ist das Salz des Geistes“. Niemals glauben, immer prüfen als Leitmotiv eines Nein-Denkens, um in der Demokratie eine Wahlentscheidung zu treffen, könnte die Prediger symbolisch wieder dorthin schicken, wo sie in der eigenen reflexiven Selbstüberhöhung einschlummern können – im Konklave des Ja-Denkens.
Peter Felixberger, Montagsblock /307
13. Januar 2025
Lesetipp: Jacques Derrida: Denken heißt Nein sagen. 140 Seiten. Passagen Verlag, Wien 2023.