Er hat sich in den tiefen Kosmos zurückgezogen und sucht nach Ringgalaxien. Von zuhause aus nutzt er Nacht für Nacht ein chilenisches Teleskop per Fernsteuerung und freut sich über das derzeit gute Wetter in der Wüste. Der amerikanische Professor, der mich vor vielen Jahren dazu bewegen wollte, meine Zukunft in Kalifornien zu planen, möchte sich viel lieber über Dunkle Materie unterhalten als über die bevorstehende Wahl. „Ich befürchte das Schlimmste, und hoffe trotzdem das Beste,“ sagt er dann doch. Das Bildungssystem habe versagt, das individuelle Freiheit über das Gemeinwohl stellt. Wie wäre es, jetzt in den Vereinigten Staaten zu leben? Eine nicht ganz unwahrscheinliche und dann doch nicht genutzte mögliche Weggabelung im Lebenslauf. Wo es doch schon so nervenaufreibend ist, von hier aus das alles zu verfolgen. Wenige Woche vor dem letzten Trump-Sieg hatte ich diesen Professor in Seattle getroffen. Damals hatte er siegesgewiss auf Hilary Clinton gesetzt.
Ich erzähle immer wieder, dass mein Wechsel aus der Forschung in den Wissenschaftsjournalismus kurz nach Trumps erstem Sieg auch durch die damals aufgekommene Fake-News-Debatte motiviert war. Die Kommunikation wissenschaftlicher Inhalte und wissenschaftlicher Methoden in die Öffentlichkeit erschien mir damals wichtiger als ein besseres Verständnis der Astrochemie im Umfeld junger Sterne. Die damalige Intuition hat sich aus meiner Sicht als richtig erwiesen. Und gleichzeitig stehen wir heute, acht Jahre später, kaum besser da als damals. Im Gegenteil. Menschen in meinem direkten Umfeld haben es aufgegeben, den Eliten im Allgemeinen und der Wissenschaft und den Medien im Speziellen zu glauben. Obwohl es nicht so erscheine, sei der Staat ausgehöhlt, Freiheit eine Illusion, wir alle hirngewaschen. IN WAHRHEIT (gerne werden in solchen Kontexten Dinge typographisch herausgeschrien) lebten wir in einer Diktatur.
Vielleicht ist es Teil einer verweichlichten linksliberalen Haltung, aber ich frage mich schon immer wieder, was wir falsch gemacht haben, dass sich eigentlich intelligente Menschen in eine Parallelwelt flüchten, die sie wiederum als WAHRE Realität behaupten. Ich habe darauf keine ausformulierte Antwort. Aber ich fand einen Review interessant, der vorletzte Woche veröffentlicht wurde, und sich der Frage widmete, inwiefern auch Botschaften der Wissenschaftskommunikation zur Polarisierung beitragen können. Die Arbeit ist eher eine Referenz auf viele heterogene Studien als eine pointierte Analyse. Aber sie hebt hervor, dass Polarisierung auch dadurch gefördert wird, wenn bestimmte wissenschaftliche Ergebnisse als nichthinterfragbare Fakten kommuniziert werden, nach dem Motto: „Wir sagen Euch, wie es richtig ist. Und wenn ihr unsere Fakten nicht schluckt, dann seid ihr dumm oder Querdenker.“ Gleichzeitig ist diese Strategie natürlich ungemein identitätsstiftend in der eigenen Gefolgschaft. Mit anderen Worten: Sie polarisiert. Es ist nicht schwer, für diese Strategie Beispiele in der aktuellen Wissenschaftskommunikation aufzutreiben.
Aber was ist die Alternative, wenn es tatsächlich um allgemein akzeptiertes Standardwissen geht? Mehr über Unsicherheiten reden, mehrere Perspektiven und Meinungen zulassen, ist der Vorschlag im Review. Aber spielt man damit nicht genau denjenigen in die Karten, die durch ein um sich greifendes Gefühl von Unsicherheit und Relativität der Perspektiven allen den festen Stand auf dem Boden einer geteilten Realität rauben wollen?
Es gab in dieser Woche wieder ein prominentes Beispiel aus der Forschung, das das kommunikative Dilemma verdeutlicht – auch wenn es aus dem zugegebenermaßen politisch wenig relevanten Feld der Astrophysik stammt. Es ging um das erste Bild des Schwarzen Lochs im Zentrum unserer Galaxie, Sagittarius A* (Sgr A*). Das Bild war 2017 mit acht über die Erde verteilten Radioteleskopen aufgenommen worden. 2022 wurde das aus diesen Daten generierte Bild von der EHT-Kollaboration veröffentlicht. Ein oranger Donut auf schwarzem Grund, ähnlich dem in der Galaxie M87, der zwei Jahre vorher veröffentlicht worden war. Dass die Aufnahme von Sgr A* erst so spät vorlag, lag unter anderem daran, dass dieses Schwarze Loch außerordentlich unruhig ist. Es ändert seine Helligkeit innerhalb von Minuten. Das macht die Datenanalyse extrem schwierig. Die EHT-Wissenschaftler mussten daher extra für diese Anwendung komplexe neue statistische Datenanalyse-Strategien entwickeln.
Nun haben japanische Wissenschaftler die Daten unabhängig noch einmal analysiert. Mit den Standard-Analysemethoden. Und: Ihr Bild sieht ganz anders aus als das prominente Bild, das 2019 veröffentlicht wurde. Sie sehen keinen Ring sondern einen Blob, eine ausgedehnte Quelle. Haben die EHT-Wissenschaftler also die Öffentlichkeit belogen? Ist das wieder ein Fall, der die Verrohung der Forschung zeigt? Das EHT hat eine Stellungnahme veröffentlicht und sachlich aufgezählt, was das Problem an der japanischen Analyse ist. Nicht nur, dass die zeitliche Variabilität ignoriert wurde, es wurde auch ein Algorithmus verwendet, der die Entstehung von zentralen Lichtquellen im Bild fördert („self-calibration“). Die Kollaboration lade ausdrücklich Wissenschaftler dazu ein, ihre Ergebnisse zu prüfen, heißt es im Papier. In der japanischen Arbeit gebe es aber nicht nur eine Reihe offensichtlicher Fehler. Sie enthalten auch viele Falschaussagen. Die Reaktion des EHTs ist transparent, sachlich, aus meiner Sicht überzeugend. Und doch wird vom Zweifel (der medial natürlich geteilt wurde, weil streitende Wissenschaftler immer quotenträchtig sind) etwas bleiben. Und dieser Zweifel, der aus derartigen Diskussionen übrigbleibt, ist das, was das Beispiel über die Astrophysik hinaus repräsentativ macht.
Umso bewundernswerter fand ich den Kommentar eines der Wissenschaftler, den ich noch von früher kenne. Er schrieb mir, dass solche Kritik ja trotz allem auch gut dafür sei, um selbst besser zu werden. Für den wissenschaftlichen Diskurs müsse man vieles in Frage stellen. Und dabei würden auch solche Kollegen helfen, wie der japanische, der dafür bekannt ist, sich gerne öffentlichkeitswirksam mit „dem Mainstream“ anzulegen. Ich glaube, er hat Recht mit dieser Reaktion. Auch wenn es ein anstrengender und riskanter Weg ist, sich mit der eigenen erkenntnistheoretischen zweifelnden Haltung in diese raue Öffentlichkeit zu wagen. Aber ob das überhaupt mittelfristig einen Unterschied macht?
Ringgalaxien entstehen übrigens, wenn zwei Galaxien geometrisch so miteinander kollidieren, dass die eine durch die andere mittig hindurchfliegt. Oft sieht man den Partner, der das Loch verursacht hat, noch in naher Entfernung. Wenn man allerdings keinen Partner sieht, so die Überlegung, könnte das ein Hinweis auf die Existenz von Galaxien sein, die vollständig aus Dunkler Materie bestehen.
Sibylle Anderl, Montagsblock /297
04. November 2024