Montagsblock /296

Der Bundeswirtschaftsminister hat vor einigen Tagen eine Rede vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gehalten. In dieser Rede hat er unter anderem darauf hingewiesen, welche Eigendynamik soziale Netzwerke erzeugen, deren Algorithmen darauf geeicht sind, vor allem das Polemogene, das Konflikthafte und nicht zuletzt das Eskalierbare in den Vordergrund der Aufmerksamkeit zu schieben. Er sprach davon, dass eine in diesem Sinne nicht regulierte Form der sozialen Netzwerke für die liberale Demokratie gefährdend sei, weil hier die Eigendynamik des Kommunikationsflusses zu Polarisierung und Eskalation beitrage.

Clips mit den Aussagen des Redners machten auf sozialen Netzwerken die Runde – und interessanterweise haben sie bestätigt, worum es in der Rede ging. Es wurde nicht etwa über diese Regulierungsfrage diskutiert, ob das politisch sinnvoll ist, rechtlich statthaft, mit liberalen Werten vereinbar, wie so etwas durchsetzbar wäre, wer das machen müsse – all das hätte man diskutieren können. Die Reaktionen funktionierten ganz anders. Es reichten die Stichworte einer „unregulierten Form“, es reichte, diese Form für „nicht akzeptabel“ zu halten, es kam auch noch die Vokabel „Milliardäre“ vor und nicht zuletzt, dass man irgendwie eingreifen muss.

Diese Gemengelage von Stichworten reichte schon aus, um vorgeführt zu bekommen, was der Redner meinte. Denn was in den sozialen Medien vor allem sichtbar wurde, ist eine interessante Umkehr des Arguments. Die Meinungsfreiheit wolle der Minister einschränken, die Freiheit des Wortes, den Pluralismus, als schlechter Verlierer wurde dieser Vertreter des „Elfenbeinturms“ bezeichnet, Vergleiche mit der Medienpolitik der DDR machten die Runde, also ein erwartbares Programm, das all die Chiffren aufruft, die stets erwartbar sind. Die Leute reden nicht nur irgendein Zeug, sondern erwartbares Zeug. Das ist ja auch die Basis für die Algorithmen, Ordnung in die Sache zu bringen und die polemogene Form zu bestärken, bevor man das diskutieren kann, auch bevor man es zivilisiert kritisieren kann. Und es sind ohne Zweifel exakt die algorithmischen Lösungen, die der Redner ansprach: diejenigen nämlich, die die polemogene Interpretation eher verbreitet als eine kultivierte Form der Auseinandersetzung, die übrigens in der Mustererkennung der Algorithmen viel schwieriger zu identifizieren ist.

An der Rede wurde also exekutiert, was sie thematisierte – und die Form der Kritik basierte exakt auf jenen Selektionsleistungen, die hier soziotechnisch verstärkt werden und sich damit selbstreferentiell bestätigen. Es wäre nun geradezu naiv, dagegen inhaltlich zu argumentieren, denn über diesen Mechanismus des Arguments und des besseren Grundes ist dieser gesamte Medienbereich weit hinweg. Die Kritiker, die allein in der Forderung nach einer gewissen Transparenz des Algorithmus und mit dem Hinweis auf die algorithmisch gesteuerte Machtallokation der Plattformen eine „Einschränkung der Meinungsfreiheit“ diagnostizieren wollten, haben entweder keine Ahnung von den technischen Gegebenheiten, oder sie sind letztlich selbst Produkte dieser algorithmischen Form der Wirklichkeitserzeugung.

Sich soziale Medien prinzipiell als eine Art Agora des freien Redens vorzustellen, ist naiv. Und doch sind gerade diese Medien radikale Garanten einer Freiheit, die tatsächlich in der Produktion von Sätzen überhaupt keine Grenzen kennt – keine Grenzen irgendeiner argumentativen Qualität und keine Grenzen irgendeiner präferierten mehr oder weniger idiosynkratischen „Meinung“. Noch nie konnte man so viel und so Unterschiedliches sagen. Letztlich garantieren diese Plattformen free speech in geradezu hypertropher Form – und zugleich dementieren sie das Fantasma einer frei diskutierenden Öffentlichkeit.

Denn diese Netzwerke bilden ja keineswegs einfach diese grenzenlose Freiheit ab, sondern bearbeiten sie ihrerseits weiter – und hier irrt der Redner tatsächlich, wenn er diese Form eine „unregulierte“ nennt. Es hat fast etwas Ironisches, dass man den libertären Liebhabern der free speech ohne jegliche Einschränkung, Kontrolle und Aufsicht sagen muss, dass es kaum etwas Regulierteres gibt als die Kommunikation in sozialen Netzwerken. Diese regulieren natürlich nicht mit Zensur, mit Strafen, mit Verhinderung und Exklusion, sondern subtiler: in der Form einer algorithmisch nach ziemlich intransparenten Regeln arbeitenden Form der Aufmerksamkeitssteuerung, die ihrerseits wieder die Basis für weitere Kommunikation ist.

Wer ein „liberaler“ Kritiker des angeblich illiberalen, autoritären Ansatzes des ministeriellen Redners ist, also ein wirklich liberaler Kritiker, müsste sehen, dass der Redner zwar den Fehler macht, diese Plattformen unreguliert zu nennen, aber doch gerade auf die Radikalität der Regulierung hinweist: durch zentrale Spieler mit Macht, durch eine intransparente Formen der Selektivität, die geradezu inflammatorisch jenem „freien Spiel der Kräfte“ misstrauen, aus dem sich doch der größte benefit für alle generieren soll.

Der Wirtschaftsminister hätte vielleicht die Überregulierung der sozialen Netzwerke anprangern sollen – und er hätte dann plädieren können für eine schwächere oder andere Form des selbstreferentiellen Eingriffs der medialen Ereignisse in sich selbst, statt eine imaginäre Freiheit anzunehmen, die nun reguliert werden muss. Das trifft nämlich weder die technischen noch die politischen und ökonomischen Strukturen des Geschehens. Was er aber mit keinem Wort erwähnt hat, war eine wie auch immer geartete Idee der Einschränkung von Äußerungsmöglichkeiten, vulgo Meinungsfreiheit oder Freiheit der Rede – das aber waren die Reflexe derer, die eine solche Rede ohnehin schon aus Prinzip delegitimieren, weil sie zwar im Namen der Freiheit segeln, aber über die Freiheit selbst wenig verstanden haben, wenn sie mehr bedeuten soll als ein Zufallsgenerator von Unterschiedlichem.

Vielleicht liegt es also auch an den sozialen Medien selbst, dass es kaum möglich ist, angemessen und kontrovers über die sozialen Medien zu debattieren. Die Rede ist jedenfalls ein (vielleicht ungewolltes) Stück Selbstanwendung und hat Argumente vorgeführt, die nicht nur in den eigenen Begründungen gründeten, sondern auch in den praktischen Folgen ihrer Unmöglichkeit.

Armin Nassehi, Montagsblock /296

28. Oktober 2024