Pop regiert die digitale Welt. Jeder kann in ihr eine Pose einnehmen. Wenn er oder sie es nicht tun, macht es ein anderer. Die Posen werden ständig belebt, aufgefrischt und hochgejazzt, Interaktion und Assoziation vervielfältigen sich, Remix und Refill von Content sind unbegrenzt. Alle senden in alle Richtungen. Es regieren digitale Suchmaschine, Social Media und Pose. Zusammen sind sie die alles beherrschende Medienarchitektur geworden.
Pop me up! Pep me auf! Papperlapapp!
Auf diese Weise vermählen sich Erkenntnis, Meinung, Bilderflut, Gedankensplitter, good looking und Selfielava, bringen aber eines nicht mehr zustande: ein vorläufiges Ende. Denn alles, was wir im Digi-Öffentlichen denken und diskutieren, ist Anfang und Ende zugleich. Das Neverending-Bedeutungsbingo auf tiktokverseuchten Aussichtspunkten beginnt immer wieder von vorne, in Narzissmusverdacht zu geraten. Stellt sich die Frage: Wo speichern wir oder legen diese anschwellenden Wissenslawinen fortan ab, damit sie anderen digital leicht zugänglich bleiben und in den Clouds nicht vergessen werden?
Dafür müssen wir einen kurzen Blick in die Geschichte der Mnemonik werfen. Der griechische Dichter Simonides von Keos gilt als ihr Urvater. Der Erzählung nach war Simonides einst zu einem Gastmahl eingeladen. Zu Ehren des Gastgebers trug er einige neuere Gedichte vor. Plötzlich wurde er vor das Haus gerufen, wo angeblich zwei Männer ihn sprechen wollten. Just, als er draußen war, stürzte das Haus zusammen und begrub alle Gäste unter sich. Der römische Dichter und Philosoph Cicero schrieb später: „Die Leichen waren so zermalmt, dass die Verwandten, die sie zur Bestattung abholen wollten, sie nicht identifizieren konnten. Da sich aber Simonides daran erinnerte, wie sie bei Tisch gesessen hatten, konnte er den Angehörigen zeigen, welches jeweils ihr Toter war.“ Es war die Geburtsstunde der Gedächtniskunst.
Im Laufe der Jahre und Jahrhunderte veränderten sich deren Medialisierung und Ästhetik. Während Alchemisten, Kabbalisten und Mystiker noch mit einem Zeichenvorrat von Symbolen, Kreisen und Hieroglyphen hantierten, verdrängten literale Speicher wie Enzyklopädien, Lexika und Bücher die antike Mnemotechnik. Die Generierung mentaler Bilder wurde im Laufe der Zeit ersetzt durch technische Memorialsysteme wie das gedruckte Buch bis hin zu optischen Aufzeichnungssystemen. Heute versprechen der multimediale Computer und die KI, einen globalen Gedächtnisraum abbilden zu können.
Nicholas Negroponte, Gründer und Direktor des Media Lab am MIT (Massachusetts Institute of Technology), erfand in alter Mnemotechnik-Tradition die Metapher des Schreibtisches. Mit Papierkorb, Schere und Radiergummi auf dem Bildschirm, der zum virtuellen Gedächtnisraum wurde. Es sollte das Arbeiten erleichtern und den Nutzern als Ablageort dienen. Simonides wurde computerisiert. Der Nutzer konnte jetzt eine repräsentative Auswahl seines Wissens, seiner Erfahrungen und Erkenntnisse wiederauffindbar halten. Er rückte damit in den Möglichkeitsraum, selbst abgespeichert zu werden.
Der Kognitionsforscher Francis Varela schrieb folgerichtig: „Der Grundgedanke besteht … darin, dass kognitive Fähigkeiten untrennbar mit einer Lebensgeschichte verflochten sind, wie ein Weg, der als solcher nicht existiert, sondern durch den Prozess des Gehens erst entsteht.“ Das Denken und Erinnern jedes einzelnen wird zu einer Reise in die Gedanken- und Bilddepots der Protagonisten. Gedächtniskunst wird zum Metaphernreservoir. Dieses auszuschöpfen schafft individuelle Unsterblichkeitsträume. Das Unikat wird zum ewigen Leben eingeladen.
Computertechnologie und KI sind durch Vernetzung heute erstmals in der Lage, dafür einen Cyberspace zu schaffen, in dem wir als einzelne Menschen unsterblich werden. Das befriedigt nebenbei auch unser Verlangen nach Transzendenz. Bestehen zu bleiben, während wir physisch unsere Körperlichkeit beenden. Der Cyberspace übernimmt gerade die Versprechen der Kirchen nach ewigem Leben. Wir verlassen den Körper probeweise, ignorieren Zeit und Raum und werden zumindest als Gedächtnisraum unverletzlich.
Zweifellos ein Gedanke, der aktuell nur in der Zukunft vorkommt. Der Mensch hat ein Recht darauf, ewig zu leben. In einem Cyberspace als gigantischem mnemotechnischen Behälter, voller persönlicher Bilder, Erkenntnisse und Erfahrungen. Ein Kosmos vernetzter Individualität jenseits körperlicher Grenzen und Schwächen. Beerdigt wird in dieser Welt nur noch die körperliche Hülle.
Peter Felixberger, Montagsblock /295
21. Oktober 2024
In eigener Sache: Am 1. März 2025 erscheint mein neues Buch: „BEEP, BEEP, read all about it. Bücher, die aus der Zukunft kommen.“