Ich bin viel Bahn gefahren in letzter Zeit. Und eigentlich muss man derzeit gar nicht sehr viel mehr sagen, um bereits beim Gegenüber ein wissendes Genervtlächeln hervorzurufen. Die deutsche Bahn befindet sich nun einmal in einem Zustand, der sich zunehmend apokalyptisch anfühlt. Man würde sich nicht sonderlich wundern, wenn man morgens informiert würde, dass sie den Betrieb angesichts unüberwindlicher Probleme im Betriebsablauf eingestellt hat. Weil nicht mehr genügend Züge funktionieren. Weil sich zu viele Bedienstete krankgemeldet haben. Oder weil die Schwarzfahrerquoten ein so hohes Niveau erreicht haben, dass sich der Betrieb insgesamt nicht mehr lohnt – denn die Schaffner scheinen zunehmend keine Lust mehr auf die Kontrolle der schlechtgelaunten Fahrgäste zu haben.
Bei meinen letzten Fahrten hatte ich allerdings das Gefühl, dass mittlerweile alles so katastrophal ist, dass die Laune der Fahrgäste fast schon wieder ins Positive kippt. Wer ohne jede Erwartung von Pünktlichkeit eine Reise antritt, gewinnt schließlich die innere Freiheit, sich angesichts aller Absurditäten wunderbar zu amüsieren. Wenn zum Beispiel der Schaffner per Durchsage droht – genervt angesichts eines überfüllten Zuges mit doppeltem Fahrzeugschaden – jedes auf einem Sitz von ihm gefundene Gepäckstück könne vom Besitzer im nächsten Fundamt abgeholt werden. Oder der Zug nicht abfahren kann, denn „wir warten noch auf einen gültigen Fahrplan. Ohne einen gültigen Fahrplan können wir leider nicht losfahren“. Oder der Zug aus Versehen nicht rechtzeitig bremst „Wir sind leider gerade etwas zu schnell am Bahnhof vorbeigefahren. Der Bahnhof liegt jetzt hinter uns. Im nächsten Bahnhof können Sie in einen Zug einsteigen, der Sie wieder zurückfährt.“ Oder wenn es spät abends völlig endzeitlich wird: „Unser Zug wird gleich einmal komplett abgerüstet. Kein Grund zur Sorge für sie. Als erstes werden unsere WCs und die Klimaanlage nicht mehr funktionieren. Die Beleuchtung wird noch einige Minuten arbeiten, aber dann wird auch sie abgeschaltet werden. Ich wiederhole noch einmal: Es gibt keinen Grund zur Sorge.“
Trotz all dieser Widrigkeiten gutgelaunt zu reisen, könnte so im Grunde wie ein großes psychologisches Experiment erscheinen. Wenn man erstmal alles loslässt, geht es eigentlich. Und wenn man das in der Bahn schafft, dann kann einen vielleicht auch sonst im Leben weniger nerven. Das klingt vielleicht abwegig, aber es gibt eine weitere Serviceleistung der Bahn, die ein solches Experiment nahezulegen scheint: Die multikausale Akzeptanzunterstützung. Denn was auffällig ist: Während es früher meist nur einen Grund für Verspätungen gab – typischerweise Verzögerungen im Betriebsablauf oder Personenschaden oder Warten auf Anschlussreisende – ist es heute eine lange Liste vieler verschiedener Probleme. Neulich war ich in einem Zug unterwegs, der aus sechs unterschiedlichen Gründen verspätet war: generell Bauarbeiten, klar, dann spezifisch eine Umleitung wegen Bauarbeiten, eine Weichenreparatur, Folgen eines Feuerwehreinsatzes auf der Strecke, aktuell hohe Krankenstände und eine Reparatur an einem Signal.
Zumindest bei mir führen diese langen Listen zu Entspannung. Denn es ist klar: Selbst wenn die Weiche funktioniert und es zudem auch keinen Feuerwehreinsatz gegeben hätte, wären da trotzdem noch vier Gründe übrig geblieben, die zu einer Verspätung geführt hätten. Warum mit dem Schicksal hadern, wenn kausal so gründlich dafür Rechnung getragen wurde, dass die Reise länger dauert? Und hier ist man dann tatsächlich schnell bei allgemeineren Ansätzen zur Lebenshilfe: Akzeptanz des Nicht-zu-ändernden steigert das Wohlbefinden. Das wissen Psychologen so gut wie Vertreter verschiedenster meditativ agierender Religionsgruppen. Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass mich die intensive Reisezeit der letzten Wochen meditativ vorangebracht hat – und ich auch das Positive noch besser wertschätzen kann: Meine heutige Bahnfahrt war tatsächlich pünktlich. Und angesichts des Erlebens eines so hochgradig ungewöhnlichen Ereignisses habe ich seitdem ziemlich gute Laune.
Sibylle Anderl, Montagsblock/294
07. Oktober 2024