Montagsblock /293

Ich hatte schon immer ein Faible für Leute, für die ich gar kein Faible habe. Mir waren (und sind) oft Leute ziemlich sympathisch, die völlig andere Positionen vertreten als ich, oft ziemlich sympathisch oder in einem bestimmten Sinne attraktiv. Und das nicht nur in dem Sinne, dass es um unterschiedliche „Meinungen“ (die allerkleinste Schwester aller Formen des Fürwahrhaltens) ginge, das ist nachgerade langweilig. Meinungen gibt’s wie Sand am Meer. Ich meine eher so richtige Unterschiede, also Leute, die Positionen haben, die ich selbst nie vertreten würde oder die für mich nicht in Frage kommen. Personen, an die ich da denke, sind Schriftsteller oder Journalisten, Politiker oder Wissenschaftler, also Leute mit denen Gespräche, Begegnungen, auch Konflikte stattgefunden haben. Ich habe sie auch oft gesucht, diese Antipoden oder diejenigen, die mir eher suspekt sind oder waren. Und fast immer gehörte dazu auch, dass sie irgendwie eine Anziehungskraft auf mich besaßen – und immer empfand ich da so etwas wie eine (manchmal auch nur stille) Ahnung, dass sie in Aspekten recht haben könnten, dass etwas dran ist an dem, was sie so „falsch“ sehen, dass auch dieses „Falsche“ etwas Richtiges trägt. Dass es auch dafür Gründe gibt. Oder Plausibilität.

Es waren oft Positionen, die ich normativ, ästhetisch, sachlich, politisch nicht mochte – und doch… . Und ich hatte oft das Gefühl, dass es gerade diese Leute waren, von denen ich einiges gelernt habe und mit denen es oft ein interessantes Einverständnis über Unüberbrückbares gab. Das ist ja auch eine Form der Verständigung, die Differenzen, die unausräumbaren Differenzen anzuerkennen und damit weniger monströs werden zu lassen. Und manchmal, das ist natürlich eine Unterstellung, hatte ich den Eindruck, dass das auch von der anderen Seite so empfunden wurde.

Warum erzähle ich das? Schon seit einiger Zeit, es hat in der Pandemie erst eher langsam begonnen, aber dann später doch erheblich zugenommen, mache ich die Erfahrung bei denselben Personen, dass diese Attraktivität des ganz anderen, die Anerkennung der Differenz, das Augenöffnende in dem ganz anderen Blick irgendwie seltener geworden ist. Und ich spreche nicht von einem allgemeinen Eindruck, sondern von denselben Personen. Ich habe das Gefühl, dass der Ton unerbittlicher geworden ist, die Differenzen rigoroser, die Urteile apodiktischer, mit weniger Lücken und wenig Platz für die Abweichung von der vordergründigen Unüberbrückbarkeit. Die Positionen werden so unversöhnlich und stabil, dass sie keinen Platz für dritte Positionen haben, nicht einmal mehr in den konkreten Momenten, von denen manche Auseinandersetzung lebt.

Woran liegt das? Es würde unbescheiden klingen, wenn ich behaupte, die Veränderung würde nur auf der anderen Seite stattfinden – und „andere Seite“ meint keine konkrete Position, keinen Großkonflikt und keine ideologische Demarkationslinie, sondern nur jene Linie, die ich oben beschrieben habe: das Einverständnis über das Nicht-Einverständnis und die produktive Wendung dessen. Es würde in der Tat unbescheiden klingen, aber ich fürchte, es ist so. Die Härte und das Apodiktische mancher Position ist wirklich erschreckend geworden – und es unterschreitet immer öfter die Möglichkeiten der betreffenden Personen, denn dass mehr möglich ist, ist ja empirisch erwiesen.

Was ich hier beschreibe, ist eine sehr idiosynkratische Erfahrung – aber vielleicht ist es mehr. Es könnte ein Indikator dafür sein, wie unversöhnlich die Diskurse geworden sind und wie unwahrscheinlich darin die Überraschung geworden ist. Urteilskraft meint ja auch die Fähigkeit, sich über Regeln, Regelmäßigkeiten, Erwartbarkeiten hinwegsetzen zu können – all das nimmt Schaden, wenn man sogar Differenzen über die Differenzen hat. Es erzeugt dann auf allen Seiten mehr Konformität, weil man nicht mehr vom anderen – der/die andere und das andere – überrascht werden kann. Unbefragbare Differenzen erzeugen zu viel Stabilität, zu viel Sicherheit, zu klare Feindbilder (und vielleicht sind die Freundbilder noch schlimmer).

In diesem Sinne: Lasst uns uns gewogen bleiben, Ihr Lieblingsfeinde!

Armin Nassehi, Montagsblock /293

30. September 2024