Eines Tages wollte der Lehrer eine halbe Stunde seine Ruhe haben. Er stellte der Schulklasse zu diesem Zweck die Aufgabe, die Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. Einer der Schüler war der später berühmte Mathematiker Carl Friedrich Gauß. Seine Mitschüler begannen in der zu erwartenden Rechenlogik: 1+2=3; 3+3=6; 6+4=10 usw. Als der Lehrer gerade einzunicken begann, stand der kleine Gauß zwei Minuten später vor dem Lehrer mit den Worten: 5050.
Wow, wie hatte er das gemacht? Ganz einfach. Er hatte einen Komplexitätsreduzierer gebildet. Die Logik: Ich stehe hier vor einer Zahlenreihe, deren erste und letzte (1 und 100) zusammen 101 ergeben. Die zweite und vorletzte Zahl, 2 und 99, ergeben ebenfalls 101, und so auch die dritte (3) und die vorvorletzte (98). Ich habe es also mit 50 Zahlenpaaren zu tun, die jeweils 101 betragen. 50 mal 101 ergibt 5050. Problem gelöst. Die Pause des Lehrers war beendet.
Das Beispiel steht für den Umstand, dass wir oft in dem Glauben sind, dass die Lösung eines komplexen Problems mindestens ebenso komplex sein müsse wie das zu lösende Problem. Der englische Kybernetiker Stafford Beer hat dafür den Begriff des Komplexitätsverminderers gebildet. Gemeint sind Interventionen in komplexen Problemsituationen, die die Komplexität nicht zerstören, aber dennoch eine raschere Lösung von Problemen ermöglichen.
Der bekannteste Komplexitätsverminderer, sagt der Psychologe Paul Watzlawick, ist die „versuchte Lösung“. Dahinter verbirgt sich die Frage: Was haben die betroffenen Akteure bisher getan, um mit einem Problem fertig zu werden? Was wiederum eine Frage darstellt, die leicht zu beschreiben ist. In der Regel wissen wir nämlich danach, was bisher nicht geklappt hat. Und erkennen deshalb, was wir nicht tun müssen. Gleichzeitig können wir sofort überlegen, wie wir die versuchte Lösung möglichst schnell blockieren oder durch eine andere zu ersetzen versuchen.
Willkommen in der Meisterdisziplin, aus einer einmal versuchten Lösungsstratege herauszugehen und womöglich das Gegenteil dessen zu tun, was man bisher für richtig hielt. Watzlawick vergleicht das mit einem Segler, der sich weit über die Bordwand des Segelbootes hinauslehnt, um es zu stabilisieren, wenn der Wind sehr stark aus einer Richtung weht.
Interessant wird es, wenn sich zwei Segler auf gegenüberliegenden Seiten hinauslehnen und das Boot zu stabilisieren versuchen. So geschehen in der Wahl des CDU/CSU-Kanzlerkandidaten letzte Woche. Beide „Segler“, Merz und Söder, lehnten sich auf beiden Seiten hinaus. Je mehr sich der eine hinauslehnte, desto mehr musste sich auch der andere auf der Gegenseite hinauslehnen. Ein austariertes Spiel mit der Balance, das sich über Tage, Wochen, sogar Jahre hinziehen kann.
Aber eben nicht die Lösung der komplexen Kandidatenkür darstellt. Was also tun? Nun, der Problemlöser müsste wenigstens einen der beiden überzeugen, genau das Gegenteil zu tun, was er bisher getan hat, nämlich wieder ins Boot hereinzukommen. Mit der Folge: Auch der andere müsste jetzt ins Boot zurückkommen, um nicht ins Wasser zu fallen.
Man muss kein großer Zukunftsprophet sein, um zu erkennen, dass Merz und Söder irgendwann recht schnell auf den Trugschluss zwischen Lösung und Problem hereinfallen werden. Beide neigen nämlich dazu, bei aufkommendem Wind recht schnell wieder über der Bordwand zu hängen. In diesem Moment kann der andere so tun, als ob auch er sich wieder hinausschwingen würde. Das könnte aber der besagte Trugschluss sein. Mit der Folge: Der eine wird den anderen ins Wasser fallen lassen und die Kapitänsrolle einnehmen.
Ich nenne solche Menschen Komplexitätserhalter. Sie denken an den eigenen Vorteil des Problemerhalts und nicht an die komplexitätsvermindernde Problemlösung.
Das wusste übrigens schon ein 8-jähriger Junge vor knapp 270 Jahren, der später einer der größten Mathematiker der Geschichte werden sollte.
Peter Felixberger, Montagsblock /289
23. September 2024