Die Wahlen gestern beenden das Zeitalter der selbstverständlichen Demokratie. Erstmals seit langer Zeit gelangten die Furien des Nationalismus wieder in Reichweite von Regierungsverantwortung und Machtübernahme. Ihre Massenkommunikation mit schlichten Lügen und Erfindungen sowie vergessen geglaubten Geschichtsmythen zeigt eine erste teilhegemoniale Wirkung, zumindest in den ostdeutschen Ländern.
Ein kurzer Blick zurück in die politische Kultur offenbart, wessen Lied Björn Höcke&Co. singen. Historische Einordnung: Der Nationalismus, von seinen geschichtlichen Ursprüngen bis hin zu den Ausprägungen in Amerika, Asien und Afrika, ist ein Phänomen des europäischen 19. Jahrhunderts, entstanden als Konsequenz der literarisch-intellektuellen Romantik und der mitteleuropäischen Reaktion auf die neuen Ideale der Französischen Revolution.
Der „wilde deutsche Geist“ (wie ihn Isaiah Berlin einst bezeichnete) revoltierte gegen die unumstößliche, universale und zeitlose Ordnung der Dynastien und forderte, so etwa bei Fichte, das freie, selbstbewusste Wesen, das aus dem Nichts hervortritt. „Diese romantische Reaktion sollte die Individuen von Absolutismen und gesellschaftlichen wie politischen Hierarchien befreien, damit sie ihr eigenes, authentisches Selbst entdecken und diese Authentizität sowohl in der Kunst als auch im Gesellschaftsleben ausdrücken konnten“, schrieb der US-Historiker und Publizist William Pfaff.
Alte mündliche Sprachen wurden wiederbelebt und mit schriftlichen Formen und Grammatiken ausgestattet, das untergegangene und verschollene nationale Wissen wieder zu Tage gefördert (etwa in Irland, wo die Wiederbelebung des Keltischen das nationale Selbstgefühl derart inspirierte, dass sich die Iren 1921 erfolgreich von der britischen Herrschaft freimachten).
Die Französische Revolution, so Pfaff, vollendete eigentlich nur das Freiheitsstreben, weg von willkürlicher Herrschaft, und „setzte individuelle Rechte, den Wert und die Individualität des Menschen und die Gleichheit der Individuen durch“. Die Nation erhielt eine neue politische Bedeutung, denn die Individuen, das Volk, mussten jetzt in eine neue politische Einheit gebracht werden. In der Konzeption des volonté générale erklärte sich das Volk erstmals als Gesamtsouverän und definierte damit eine neue nationale Selbstbestimmung. Der Citoyen, nicht der Franzose, war der grundlegende Begriff der Französischen Revolution. Die Idee dahinter: Die Menschen schließen untereinander einen Vertrag, damit das Sicherheitskorsett eines friedlichen Miteinanders funktioniert. Sie unterzeichnen stellvertretend einen Vertrag für eine sichere Koexistenz als Citoyens.
Doch die politische Ideengeschichte nahm eine fatale zweite Abzweigung. Und es waren die Deutschen (Fichte, Herder, Novalis), die dem französischen Citoyen den „Volksgenossen“ gegenüberstellten, der später zu einem Kernbegriff des Nationalsozialismus wurde, und der sich auf Menschen bezog, die Blut, Sprache und Geschichte miteinander teilten. Bismarck griff sogar die Grundüberzeugung auf, dass es eine deutsche „Rasse“ gebe. Bis in die Gegenwart findet man diesen „Glauben an eine deutsche Identität des Blutes“. Wenngleich, kurze Fußnote: Die völkische nationale Identität ist einigermaßen absurd, denn Deutschland „ist während seiner ganzen Vergangenheit ein Treffpunkt und ein Schmelztiegel gewesen. Im Laufe der Jahrhunderte hat es eine Vielzahl von Einwanderern aufgenommen: protestantische Hugenotten . . ., holländische Siedler . . . und Polen.“
Der moderne Nationalstaat in Europa entwickelte sich also in zwei Richtungen: als international-demokratische Koexistenz friedlicher Citoyens und als volksgenossenschaftliches Bewusstsein, ein separatistischer Teil der Menschheit zu sein. Der völkische Nationalismus hat allerdings eine gewalttätige Fratze. Denn das überhebliche Nationalgefühl und seine ungehemmte Zurschaustellung patriotischer Rituale mündeten bekannterweise in die großen totalitären Bewegungen des letzten Jahrhunderts. Doch der Nazismus wurde, wie Hannah Arendt schon hinwies, von der „Doktrin des Imperialismus des 19. Jahrhunderts“ gespeist, also mit der Strategie einer transnationalen Machtausweitung. Im Unterschied etwa zum italienischen Faschismus, der eindeutig nationalistisch ausgerichtet war. Diese hegemoniale Binnen- und Außenorientierung muss man berücksichtigen, wenn man heute auf die Gefahren eines neuen Faschismus blickt.
Die neuen Rechten haben vor allem eine Binnensicht. Sie wollen das politische Wirklichkeitsbild in den Köpfen der Menschen verändern, bevor sie sich – und davon sind sie mehr denn je überzeugt – in den direkten Kampf um die politische Macht einlassen. Ihr Politik- und Verfassungsverständnis ist grundsätzlich gegen Liberalismus, Pluralismus und soziale Demokratie gerichtet, womit sie sich ausdrücklich im Gegensatz zum Grundgesetz dieser Bundesrepublik befinden.
Björn Höcke und die AfD sind (noch) keine „reinrassigen“ Nazis. Sie gehören eher in das ideologische Lager eines lokalen Nationalbewusstseins mit Blut, Sprache und Geschichte als völkische Determinanten. In diesem Weltbild ist der liberale Citoyen-Internationalismus nach wie vor der potenteste Gegenspieler, federführend die UNO als universales Friedensinstrument und die Europäische Union als supranationale Demokratiegemeinschaft. Oder im Höcke-O-Ton: „Diese EU muss sterben, damit das wahre Europa leben kann.“
Ab heute beginnt das Zeitalter unterstützungsbedürftiger Demokratien. Vorwärts, Citoyens!
Peter Felixberger, Montagsblock /289
02. September 2024