Die Menschen sind immer unzufriedener. Umfragen zeigen das. Man hört es überall. Nichts funktioniert mehr. Alles ist teuer. Man darf nichts mehr sagen. Bürokratie wird immer schlimmer. Die Innenstädte gehen kaputt. Kriminalitätszahlen gehen hoch. Keiner macht was.
Am kommenden Wochenende wird sich diese Unzufriedenheit aller Voraussicht nach in den Wahlergebnissen im Osten manifestieren, alles andere wäre eine große Überraschung. Aber warum sind eigentlich alle so unzufrieden?
Neulich habe ich mit dem Nobelpreisträger Saul Perlmutter gesprochen, der dem entgegengesetzt hat: Wir Menschen haben nie in einer besseren Zeit gelebt. Wir haben heute als erste Generationen der Menschheitsgeschichte die Möglichkeit, eine Welt zu realisieren, in der jeder Mensch sich verwirklichen kann. Wir haben dafür die nötige Technologien, das nötige Wissen und im Prinzip auch die Ressourcen. Was uns fehlt, möchte man ergänzen, ist Optimismus. Und zumindest hierzulande auch etwas mehr Demut und Dankbarkeit. Insofern ist zu befürchten, dass es bei der theoretischen Möglichkeit bleiben wird. Denn unsere Unzufriedenheit raubt uns so viel Energie, dass für Visionen gar kein Raum mehr ist.
Neulich bei einer Hochzeit hatte ich noch eine andere interessante Begegnung. Zwei Griechen, die vor einem Jahr nach Hamburg gezogen sind. Und erzählen, was für ein Luxus es ist, sich nicht jeden Tag Gedanken darüber machen zu müssen, ob und wie die ganz grundlegenden organisatorischen Aspekte des Alltags bewältigt werden können. Weil in ihrer Heimat tatsächlich von sich aus nichts so richtig funktionierte. Ähnliches hörte ich neulich von einem syrischen Taxifahrer, der sich immer noch jeden Tag über die vielen Annehmlichkeiten freut, die das Leben in Deutschland mit sich bringt.
Auch ich erinnere mich daran, wie schön ich die sauberen und ordentlichen Straßen fand, als ich aus Frankreich zurück nach Deutschland kam. Über meine supergut isolierten Fenster und die nicht-elektrische Heizung, die ich auch nachts ohne Sorge vor Unfällen und gigantischen Stromrechnungen laufen lassen kann, freue ich mich immer noch jeden Winter. In Grenoble (Ort der Olympischen Winterspiele 1968!) gab es beides in normalen Gebäuden fast gar nicht. In meinem Uni-Büro waren im Sommer 35 Grad und im Winter 10. Nicht nur in dieser Hinsicht führe ich momentan ein unglaublich privilegiertes Leben.
Mein Vater wiederum, im Krieg mit der Familie vertrieben, erzählt immer wieder, was für ein Luxus es für ihn ist, dass er heute jeden Tag einen Kaffee trinken gehen kann, wenn er das möchte. Und dass er sich ganz dick Butter aufs Brot schmieren kann. Mit diesen elterlichen Erinnerungen und Mahnungen bin ich aufgewachsen. Vielleicht hat mir das ein gewisses Dankbarkeits- Zufriedenheitsfundament geschaffen, wer weiß?
Den psychologischen Mechanismus, der dem zugrunde liegen könnte, kann man zumindest auch philosophisch wiederfinden. Die Stoiker haben die negative Visualisierung berühmt gemacht, insbesondere Seneca. Die Idee: Wenn man sich vorstellt, wie es wäre, wenn man auf vieles des selbstverständlich Gewordenen verzichten müsste, weiß man es viel besser zu schätzen. Seneca selbst war reich und mächtig, was einige als unpassend zu seiner philosophischen Ausrichtung als Stoiker sahen. Er selbst verstand das nicht als Widerspruch. Über Annehmlichkeiten verschiedenster Art und seine Einstellung dazu schreibt er in „Vom glücklichen Leben“: „Er sagt, dass man diese Dinge verachten müsse, nicht, um sie nicht zu haben, sondern um sie ohne innere Unruhe zu haben; er jagt sie nicht von sich, aber wenn sie weggehen, gibt er ihnen ohne Kummer das Geleit.“ Nicht nur lässt einen die negative Visualisierung den Wert dessen erkennen, was man hat. Sie soll auch vor Verlustängsten immunisieren, indem man es schafft, das Schöne und Annehmliche zu genießen, ohne sich davon zu sehr abhängig zu machen. Der römische Kaiser Mark Aurel integrierte die negative Visualisierung hundert Jahre später in seine morgendliche Meditationsroutine. Wenn man heute seine Schriften liest, klingen sie derart weise, dass man etwas neidisch wird.
Natürlich gibt es Gründe für Unzufriedenheit, die man trotzdem nicht wegmeditieren kann. Die man auch nicht wegmeditieren sollte, weil sie Anlass für Änderungen zum Besseren sind. Ein etwas gezielterer Einsatz der eigenen Unzufriedenheit würde vielleicht trotzdem an vielen Stellen guttun. Schon allein für die allgemeine Stimmung und als Grundlage für einen konstruktiven Optimismus. Allerdings muss man sagen: Die Aktualität der Stoiker zeigt, dass die Menschen darin schon immer schlecht waren, zu schätzen, was sie haben. In mehr als 2000 Jahren hat sich da offenbar wenig geändert. Und das ist faszinierend und frustrierend zugleich.
Sibylle Anderl, Montagsblock 288
26. August 2024