Montagsblock /290

Gerade ist das Kursbuch 219 „Exil“ erschienen – bei uns aber laufen die Vorbereitungen für das Kursbuch 220 schon auf Hochtouren. Wie bereits im Editorial des aktuellen Kursbuchs angekündigt, ist die nächste Ausgabe keine gewöhnliche. Kursbuch 220 ist nach dem Start mit Kursbuch 170 im Jahr 2012 nun das 50. Kursbuch unter unserer Regie. Aus diesem Anlass könnte man zurückblicken, Themen noch einmal Revue passieren lassen, ihre Aktualität überprüfen oder eine Entwicklung nachzeichnen. Wenn wir recht sehen, sind die allermeisten Texte aus diesen 50 Ausgaben gut gealtert – auch wenn sie durchaus die Zeitläufte wiedergeben. Doch all das wollen wir nicht diskutieren. Die Dinge zielen eher auf die nächsten 50 Ausgaben, auf die Frage, wie es weitergeht. Das Kursbuch 220 wird exakt diese Frage stellen – und diesmal keine Essays oder Intermezzi präsentieren, sondern Gespräche. Wir, die drei Herausgeber, führen Gespräche mit unterschiedlichen Menschen, denen wir die lapidare Frage stellen, wie es weitergeht – und das nicht abstrakt, denn es geht nicht abstrakt weiter, sondern konkret und in unterschiedlichen Feldern.

Wir führen diese Gespräche gerade – manche sind schon „im Kasten“, andere stehen kurz bevor. Wir sprechen – in einer noch unvollständigen Auswahl – mit einer Expertin für Cyberkriminalität, mit einem ehemaligen Verfassungsrichter, mit einem Rabbiner, einer Kulturpolitikerin, einer Expertin für Innovation, einer Schriftstellerin, Technologieexperten – die Liste ist noch nicht vollständig, aber neben einigen Interviews sind schon einige Vorgespräche geführt. Schon die Auswahl unserer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner zeigt an, dass es ganz unterschiedliche Dimensionen dessen gibt, wie es weitergeht. Es bildet sich darin eine Gesellschaft ab, die sich selbst nur in der Vielheit ihrer Stimmen, in der Multiplizität ihrer Perspektiven, in der Perspektivität ihrer Expertisen thematisieren kann.

Was sich jetzt schon abzeichnet: In den bisherigen Gesprächen wird deutlich, dass unsere Gesprächspartner sich weniger auf Rezepte kaprizieren oder darauf, was nun konkret zu entscheiden sei, um Probleme zu lösen. Gemein ist bis jetzt den Gesprächen, dass sie gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen nicht einfach auf konkrete Entscheidungen zurückführen wollen. Gemein ist ihnen, dass sich die Frage „Wie geht’s weiter?“ nicht mit denselben Kategorien bewältigen lässt. Ohne hier schon konkret auf Gespräche einzugehen, kann man bis dato sagen, dass sich die Gespräche auch um angemessene Kategorien und Begriffe drehen, auch darum, wie sich Sicherheiten auflösen, die man offensichtlich nicht einfach fortschreiben kann.

Man kann die These vertreten, dass Dinge dann als besonders krisenhaft erlebt werden, wenn die Bedingungen ihrer eigenen (Un-)Möglichkeit sichtbar werden – einfacher gesagt: Wenn die Dinge nicht einfach durch einen konventionellen Begriffsgebrauch geklärt scheinen. Die Funktion eindeutiger Begriffe besteht auch darin, mehr Sicherheit zu suggerieren, als es der Sache angemessen ist. Unsere Gespräche haben auch zum Ziel, zu viel Sicherheit im Sprechen zu vermeiden und sich der Erfahrung zu stellen, dass sich die Dinge nicht einfach durch konventionelle Formulierungen wegreden lassen.

Um es nur an zwei Beispielen zu benennen, die bereits „im Kasten“ sind: Dass die bloße Existenz von Wahlen und die Einhaltung von Verfahren nur eine notwendige und keineswegs eine hinreichende Bedingung für die Demokratie sind, wird derzeit in immer mehr Ländern immer sichtbarer. Manche Problemlösungskapazität der Demokratie scheint von Bedingungen abhängig zu sein, die derzeit nicht einfach vorausgesetzt werden kann. Es scheinen Konventionen bisheriger demokratischer Praxis praktisch in Frage zu stehen.

Das zweite Beispiel zielt auf die Bedeutung von Kunst und Kultur – und ihren Wandel in Zeiten, in denen diese durch ganz andere Kulturkämpfe überlagert werden, als dies ohnehin immer schon der Fall war. Dass das nicht nur selbstgerecht beklagt werden sollte, sondern selbst eine Herausforderung für Kunst und Kultur ist, die diese mit künstlerischen und kulturellen Mitteln bewältigen muss, ist eine der Erkenntnisse dieses Gesprächs.

Zunächst sei unseren Leserinnen und Lesern viel Vergnügen mit dem Kursbuch 219 „Exil“ gewünscht – und Vorfreude auf unser Jubiläums-Kursbuch, das an sich selbst zeigen wird, wie es weiter gehen könnte.

Armin Nassehi, Montagsblock /290

09. September 2024