Jüngst habe ich in Buchform die These vertreten, dass nachhaltige Veränderungen, gerne „Transformationen“ genannt, kaum in Form großer intellektueller Gesten, kaum in Form disruptiver Veränderungen, kaum als Revolution, nicht einmal als die eine konkrete Entscheidung gelingen können, sondern eher in kleinen, manchmal unmerklichen Schritten, die sich an die gesellschaftlichen Routinen anschmiegen müssen, um sie zu verändern.* Das Argument spricht nicht gegen Veränderungen und Transformationsschritte, will aber sensibel dafür sein, dass sich Veränderungen nur stabilisieren können, wenn sie sich evolutionär in die Form der Gesellschaft selbst einpassen. Es gehört aber zu den milieuspezifischen Glaubenssätzen der räsonierenden Klasse und intellektueller Formen, eher die disruptive Form zu präferieren – gespickt mit Dringlichkeitsdiagnosen, Zeitknappheit und hohen Notwendigkeitswerten. So lassen sich auch viel besser Texte schreiben – und so können solche Texte auch besser aushalten, dass sie wirkungslos bleiben, werden sie in der eigenen Gemeinde doch mit heißem Herz geglaubt. Am Ende hat zumeist auch dieses räsonierende Milieu viel weniger zu befürchten, wenn es um Veränderungen geht als andere Milieus mit anderen ökonomischen und kulturellen Ressourcen, vor allem mit anderen Kontinuitätserwartungen. Für die ist Disruption eher eine Drohung statt einer exotischen Erwartung eines Kairos.
Aber darum soll es hier nicht gehen – ich entlehne mein eigenes Argument einer eher in evolutionären Selbstanpassungsschritten, in der unspektakulären Veränderung von eher konkreten als disruptiven Verschiebungen, einer Nachhaltigkeit durch Eingebettetsein in Routinen, um jenen schleichenden Prozess der Delegitimierung und inneren Aushöhlung der liberalen Demokratie zu beschreiben, der allfällig zu beobachten ist und der sich in den Prognosen für die anstehenden drei Landtagswahlen abzeichnet. Ich versuche also, meine Beschreibung des gesellschaftlichen Veränderungsmodus in Richtung nachhaltiger Transformationsmöglichkeiten anzuwenden auf Veränderungen weniger wünschenswerter Art, nämlich für eine nachhaltige Schädigung und Schwächung demokratischer Verfahren und der Formen liberaler Demokratien.
Liberale Demokratien verschwinden nicht durch Revolutionen (sie werden auch nicht durch solche gerettet, wie manche Klimaromantiker meinen), auch nicht durch Putsch oder übergriffiges Militär. Sie werden nicht disruptiv geschliffen, nicht mit einem großen Knall. Sie geraten eher in Gefahr durch schleichende Delegitimierung von innen, durch langsame Entwicklungen, eher kleine Schritte, und zwar Schritte, die sich tatsächlich wie oben für nachhaltige Transformationsstrategien beschrieben, in die bestehenden Routinen einfügen. Dass Demokratien sich mit demokratischen Mitteln abschaffen können, gehört ohnehin zu den bekannten Risiken demokratischer Verfahren, die anders als autoritäre Formen (selbst wenn sie elektorale Elemente enthalten) von einer Ergebnisoffenheit geprägt sind, die nicht prinzipiell einzuholen ist. Mit disruptiven Formen der Übernahme autoritärer, populistischer, undemokratischer Verfahren und comments könnte die Demokratie womöglich besser umgehen als mit dieser langsamen, schleichenden Form.
Populistische politische Formen leben von einer generalisierten Elitenkritik – Kritik an einem angeblich ununterscheidbaren Mainstream der „Altparteien“, „Lügenpresse“, Abwertung des akademischen „Elfenbeinturms“ usw. –, die aber zunächst das genuin demokratische Recht der Kritik in Anspruch nimmt. Die Anpassungsleistung solcher Kritikformen ist enorm. Sie sehen aus wie demokratische Auseinandersetzungen, aber sie betreiben unmerklich das Geschäft einer Kritik, die vor allem eine „Systemkritik“ ist, die gerade den demokratischen comment außer Kraft setzt, dass der demokratische Gegner kein Feind ist. Wie sich solche Formen verselbständigen, lässt sich daran erkennen, dass dieser Kritikstil dann auch innerhalb des demokratischen Spektrums angewandt wird – es werden Hauptgegner ausgemacht, obwohl es die Gegnerschaft gegen die gesamten Verfahren gibt, man schießt sich auf konkrete Spieler ein, denen fast alles zugerechnet wird, die Vorwürfe werden pauschaler und weniger tiefenscharf und man übernimmt die Feindbeobachtung der Populisten und kopiert machgerade unschuldig ihre Kategorien.
Das Interessanteste an meinem Argument ist, dass man dagegen einwenden kann, so sei nunmal das demokratische Geschäft – und das stimmt auch. Aber der Vorwurf bestätigt zugleich die These, dass diese Formen des generalisierten Zweifels an allem bisweilen geradezu harmlos daherkommen und dann Schritt für Schritt vorgehen können. Je stärker der Zweifel am „System“ gesät wird, desto plausibler wird die undemokratische Alternative zur demokratischen Alternative. Was rechtspopulistische Akteure (eingeschlossen die poststalinistische One-Woman-Show auf der linken Seite) derzeit zu schaffen scheinen, ist etwas, das den alten linken Systemkritikern niemals gelungen ist, nämlich sich evolutionär in die bestehenden Verfahren einzunisten. Die alten Linken waren zu disruptiv mit ihrer Revolutionsromantik, mit ihrer überbordenden Kapitalismuskritik und ihrem Versuch, anders als das eigentliche Volk zu sein. Erst der evolutionäre „Marsch durch/in die Institutionen“ hat sie, vielleicht gegen die eigenen Intentionen, demokratisiert, zivilisiert, pluralisiert und produktiv gemäßigt, mit erheblichen Wirkungen auf die Bandbreite politischer Möglichkeiten. Auch hier ein deutlicher Hinweis auf die evolutionäre Form der kleinen Schritte als Nachhaltigkeitsgenerator.
Die linken Trägergruppen sind freilich niemals als solche in Amt und Würden gekommen – das unterscheidet sie von den rechten Bewegungen heute, die als solche sich anschicken, in Amt und Würden zu kommen, ohne vorherige evolutionäre Demokratisierung und Zivilisierung durch Anpassung an die bestehenden Routinen. Sie werden sich anschicken, Stück für Stück rechtsstaatliche Grundlagen in Frage zu stellen, etwa Fragen legitimer Zugehörigkeit, des Pluralismus von Lebensformen, des rules of law. Vielleicht sind unabhängige Verfassungsgerichte die stärksten Garanten des Rechtsstaates, weil sie eine unabhängige Normenkontrolle ermöglichen, die dem politischen Prozess weitgehend entzogen ist. Was mit rechtsstaatlichen Garantien geschieht, lässt sich an der starken Politisierung des supreme court in den USA besichtigen. Dieser war stets in einer anderen Weise politisierter als das Bundesverfassungsgericht in Deutschland, aber seine offene Politisierung vor allem bei der Bestimmung von nichtbefristeten Richterinnen und Richtern schwächt die demokratische Selbstkontrolle der demokratischen Verfahren in den USA.
Beunruhigend scheint mir die die langsame Verschiebung semantischer Standards der Kritik zu sein. Twitter/X ist nicht die Welt – aber es ist ein guter Seismograph für die Beobachtung semantischer Verschiebungen, vielleicht auch deswegen, weil hier die Zwischenräume zwischen Reiz und Reaktion, zwischen Mitteilung und nächstem kommunikativem Ereignis extrem klein und kurz und reflexionsfrei sind. Man kann hier den Wandel von Kritik, auch scharfer Kritik hin zu einem Generalzweifel an allem Etablierten geradezu in täglicher Eskalation mitverfolgen – und das nicht von irgendwelchen durchgeknallten Leuten, sondern von (ehemaligen) Intellektuellen, von Redakteuren von sogenannten Qualitätszeitungen, von Leuten aus einer „alternativen“ Presse (entstanden als Geschäftsmodell während der Pandemie), die die demokratische Form der Kritik mit immer neuen Schritten in eine Generalabrechnung mit allen Standards verschiebt. Es sind manchmal Leute, die noch vor kurzem interessante Gesprächspartner waren, Kollegen, Journalisten, Politiker – nicht weil ich mit ihnen einer Auffassung gewesen wäre, aber es war immer ein Gewinn, sich über Fragen zu streiten. Das ist bei vielen inzwischen einer Schwarz-Weiß-Form, einem manichäischen Habitus, hyperstabilen Unterscheidungen gewichen, die befremdlich ist und nur als Symptom der langsam anschlussfähiger werdenden Fundamentalkritik jenseits von Kompromissmöglichkeiten gelesen werden kann. Mich befremdet es.
Man kann hier die evolutionäre Verschiebung der Kritikform geradezu in Echtzeit mitbeboachten, als Seismograph für eine Form, die nicht mehr jenen demokratischen Mechanismus der Konkurrenz um unterschiedliche Konzepte inszeniert, nicht mehr Opposition in den Institutionen der Demokratie, sondern gegen sie, zumindest gegen ihre gegenwärtige Form.
Schon die Beschreibung fällt schwer, weil sie selbst in den Kategorien der Routinen daherkommt, die von dieser Kritik in Anspruch genommen werden. Die Beschreibung fällt auch deshalb schwer, weil den „etablierten“ Kritisierten und Vorgeführten kaum etwas anderes übrig bleibt, als mit den Mitteln der Ablehnung, der Delegitimierung, womöglich des Verbots zu arbeiten – um damit jene zu bestätigen, die ja eigentlich nur ihr demokratisches Recht in Anspruch nehmen.
Würde all das nicht in eine Zeit fallen, in der nicht tatsächlich die Konzepte fehlen, in der politische Führung ausbleibt, in der komplexe Herausforderungen sich nicht den eingeführten politischen Konfliktlinien fügen, wäre leichter damit umzugehen. Denn das Problem jener schleichenden Aushöhlung der Demokratie besteht ja darin, dass die Kritik nicht völlig aus der Luft gegriffen ist und sich dafür Gefolgschaft findet. Zwar erfolgt das alles schleichend, aber weder die AfD noch die Poststalinisten machen ja einen Hehl daraus, was sie wollen. Von Mao Zedong stammt der berühmte Satz, der Revolutionär müsse sich im Volk bewegen wie der Fisch im Wasser – man sollte dabei nicht nur auf den Fisch sehen, sondern auch auf das Wasser, das empfänglicher für den Revolutionär ist, als es weiß. Die Veränderung fließt mit, langsam, unaufhörlich und darin gefährlich. Vielleicht kann man es nur verstehen, wenn man den Veränderungsmodus komplexer, moderner Gesellschaften versteht. Wer auf die bedrohliche (oder verheißungsvolle) Disruption wartet, kommt in jedem Fall zu spät.
Entscheidende Wahlen, in denen sich Schleichendes zu Sichtbarem wandeln könnte, finden übrigens in knapp zwei Wochen statt. Es wäre keine Disruption, nur ein Moment der Sichtbarkeit eines längeren Prozesses, der weder hier beginnt noch endet.
Armin Nassehi, Montagsblock /287
19. August 2024
*Armin Nassehi: Kritik der großen Geste. Anders über Transformation nachdenken, München: C.H. Beck 2024.