Es war einmal ein Mann, der hatte jede Nacht denselben Traum. Darin gräbt er unter einer Brücke nach einem Schatz. Doch kaum stößt sein Spaten auf die Truhe, wacht er auf und liegt stundenlang wach. In der Arbeit ist er oft müde und schläft bisweilen sogar ein. Da beschließt er, eine Auszeit zu nehmen und in die ferne Stadt zu reisen. Strapazen über Strapazen begleiten seinen Weg. Er wird überfallen, erlebt Unwetter und verirrt sich mehrmals. Endlich am Ziel angekommen, ist er komplett überrascht. Die Brücke gibt es wirklich, sie sieht genauso aus wie in seinem Traum. Dumm nur, dass sie von einem Soldaten bewacht wird. Den Spaten haltend spricht er den Soldaten an:
„Entschuldigung, klingt jetzt doof, aber dürfte ich unter der Brücke ein Loch graben?“
„Ein Loch? Hier? Nein, das geht gar nicht“, antwortet ihm der Soldat.
Daraufhin erzählt unser Mann von seinem Traum. Und, wenn er einen Schatz findet, würde er den Soldaten sogar an der Beute beteiligen.
Der aber lacht nur. „Du spinnst doch. Ich träume auch fast jede Nacht davon, dass in einem Haus unter einem alten Ofen ein Schatz liegt. Aber wegen dem lasse ich hier ja nicht alles stehen und liegen. Hau ab, du Spinner!“
Unser Mann verzieht sich und kehrt nach Hause zurück. Dort angekommen beginnt er gleich unter dem Ofen zu graben und findet einen prächtigen Schatz.
Zusammenhänge finden, Schlüsse ziehen, Verbindungslinien zeichnen, die Komplexität und Kompliziertheit der Welt annehmen, Abweichungen akzeptieren. Dadurch kommt es auf die Anpassung an. Adaptiv sein, sich auf die Umstände und den Kontext einlassen, Vielfalt und Vielheit aushalten. Die Zusammenhänge erkennen wollen, nicht nur den Zusammenhang, sagt der österreichische Publizist und geschätzte Kollege Wolf Lotter.
Das setzt aber die Bereitschaft voraus, das Wichtige entdecken zu wollen. „Die Wahl des für uns Wichtigen bleibt uns nicht erspart. Sie erfordert eben jene in Netzwerken so wichtige Kompetenz, Personen, Sachverhalte und ihre Eigenschaften zu den eigenen Interessen in einen Zusammenhang zu stellen.“
Lotter nennt das Kontextkompetenz. Unser Schatzsucher im Märchen ist ein Meister darin, auch wenn er es anfänglich nur träumt. Aber er ist offen, flexibel, überraschungsfähig und lernend. Mit Mut zum eigenen Denken. Wissen wollen, was man selbst wissen könnte. Inklusive Tatendrang.
Kontextkompetenz ist also der aktive Schritt, „zu verstehen, was ist“, im Sinne des eigenen Erreichen-Könnens. Kurz: Zusammenhänge sichtbar werden lassen, sich einordnen wollen. Kontextkompetenz „verbindet das Ich, seine Fähigkeiten, seine Talente und seine unverwechselbaren Eigenschaften mit dem Wir. Kontextkompetenz heißt auch, falsche Fakten … zu erkennen. Kontextkompetenz ermöglicht, … etwas voneinander wissen zu wollen“.
Unser kleiner Brückensoldat ist davon so weit weg wie Donald Trump von der Seriosität. Aber ohne den Soldaten funktioniert die Geschichte auch nicht. ER, der es nicht tun will. ER, der sich die Zusammenhänge nicht erschließen will. ER, der sich dem Durchblick konkret verweigert. ER, der seinen Traum nicht leben wird.
Und so schließen wir heute mit den wahren Worten des Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann: „Wissen existiert dort, wo etwas erklärt oder verstanden werden kann.“ Ich hatte kürzlich übrigens einen Traum, ein Buch schreiben zu wollen über Bücher aus der Zukunft. Vor ein paar Tagen habe ich damit angefangen. Keep you posted.
Peter Felixberger, Montagsblock /286
12. August 2024
Literaturtipp
Wolf Lotter: Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen. Edition Körber, Hamburg 2020.