Montagsblock /284

Die Eröffnung der Olympischen Spiele in Paris war bombastisch – ich mag solche Darstellungen bombastischer Popkultur üblicherweise nicht. Einige Elemente aber waren wirklich gelungen, intelligent und erstaunlich durchdacht, voller Zitate, Anspielungen, Bezüge zur Geschichte Frankreichs und gelungener Dramaturgie. Aber ich will keine Rezension dieses Mega-Events verfassen, sondern nur eine Szene kommentieren, besser: die Reaktion auf eine der Szenen. Vor einer Bühne wurde popkulturell das Letzte Abendmahl von Leonardo da Vinci nachgestellt, mit Dragqueens, überzeichneter queerer Ästhetik und allem, was dazu gehört. Man muss es nicht gelungen finden, aber es ist eben Popkultur – wenn man darunter unter anderem die zeitgenössische Form der ästhetischen Rekombination von Elementen versteht und Anspielungen unter Verzicht auf hohe Begründungslasten. Popkultur, die begründet werden muss, funktioniert nicht. Und von der Konzentration aufs Queere kann man gerne genervt sein, das geht mir bisweilen auch so – aber das ist seit den 1970er Jahren in popkulturellen Formen ohnehin angelegt, auch ohne den identitätstheoretischen Überbau späterer Zeiten.

Nicht einmal originell ist es übrigens, gerade das letzte Abendmahl in zeitgenössischen Ästhetiken zu verfremden – mir gefällt am besten David LaChapelles „The Last Supper“ von 2008. Das lässt sich hier aus urheberrechtlichen Gründen nicht abbilden, aber hier  besichtigen. Genau genommen, ist es alles nicht der Rede wert und konsequenzenfrei. Für die einen hübsch, für die anderen weniger hübsch anzusehen.

Interessant sind einige Reaktionen darauf in sozialen Medien, die man ja durchaus auch als Seismografen lesen kann. Ein Oppositionspolitiker einer staatstragenden Landespartei bemerkte – stellvertretend für unzählige ähnliche Bemerkungen –, er dachte, das sei die Eröffnung der Olympischen Spiele und nicht der CSD Paris, andere waren von der Ästhetik empört, und den Vogel schoss ein Journalist ab, der auf Twitter-X tatsächlich meinte: „wirklich aufregend wäre gewesen den propheten mohammed hier mal heiter zu verhöhnen. aber im elfenbeinturm wird nur gratismut serviert, kein wirklicher mut.“

Dieser Journalist tritt oft als Apologet der Popkultur auf, sollte also solche Ästhetik anders lesen können (und kann es auch), als es hier als Kulturkampfform exekutiert wird. Es ist eher die verbissene Aufrechnungsrhetorik als ein popkultureller Blick auf Popkultur (auf Nachfrage hat er dann eingeräumt, dass er das natürlich obercool versteht, aber fürs „Volk“ sei das zu schwer verständlich).

Nun geht es nicht um diesen Autor, dessen eigene Eskalationsspirale ja nicht als authentisches Zeugnis, sondern als Symptom gelesen werden muss. Aber aus der Perspektive des angesprochenen „Elfenbeinturms“ ist die Sache schon interessant, und zwar auch wiederum als Symptom – als Symptom dafür, wie wenig jene Apologeten des „Westens“ diesem Westens wirklich trauen.

Vordergründig hat der Tweet natürlich recht, dass eine „Verhöhnung“ des Propheten auf dieser Eröffnungsfeier wahrscheinlich die gesamte Veranstaltung gesprengt hätte. Die Proteste wären enorm gewesen – von denen, die im Hauptseminar gelernt haben, in jeder Differenzierung Diskriminierung zu wittern, und von denen, bei denen andere Perspektiven als Ehrverletzung angesehen werden, die dann bei einigen wahrscheinlich in Gewalt umschlagen würde, gerade in Paris. Beides sind kleine Gruppen, aber mit großen symbolischen und handgreiflichen Potentialen.

Viel spannender ist tatsächlich, dass es exakt jene sind, die immer den „Westen“ und die „Bürgerlichkeit“ hochhalten, die zugleich diesem Westen total misstrauen. Schon auf die Idee zu kommen, diese Darstellung des Letzten Abendmahls sei eine „Verhöhnung“, verkennt die Verhältnisse. Eine Verhöhnung kann es doch nur sein, wenn man diese Darstellung vordergründig als Religions- oder Identitätskritik liest. Gerade darüber ist doch dieser „Westen“ normativ und praktisch weit hinaus (auch wenn sich etwa in manchen Teilen der USA bereits Talibanisierungen radikaler christlicher Bewegungen abzeichnen). Die Sache mit der Liberalität und der Fähigkeit, Inhalte in ihren Kontexten zu sehen, ist stabiler, als es sich die Ressentimentbewirtschafter vorstellen können (und es ist schwierig erkämpft worden). Die Stabilität kann man vor allem an einem Detail sehen, das hier völlig ausgeblendet wird. Dass solche Darstellungen keine Identitätskrisen, keine religionspolitischen Folgen, keine wirklichen Konflikte, keine Gewalt und Gewaltandrohungen, kein ehrverletztes Beleidigtsein (mehr) erzeugen, ist genau das, was jenen „Westen“ ausmacht, den manche durch ein harmloses Spiel mit ikonischen Formen bedroht sehen. Dass man das Anhängern des Propheten, zumindest einigen wenigen von ihnen, nicht zumuten möchte, ist doch gerade die ironische Selbstvergewisserung der eigenen Stärke und gerade nicht der eigenen Schwäche eines „Elfenbeinturms“. Insofern läuft die Kritik völlig ins Leere – und beweist ein weiteres Mal, dass es kein anderes Interesse gibt als das der Ressentimentbewirtschaftung.

Es war bereits Thema des Montagsblock /273, dass die Fähigkeit, das Dritte zu denken, dritte Perspektiven in Erwägung zu ziehen, Unterscheidungen von außen zu beobachten, essentiell dafür ist, nicht in allzu stabilen Oppositionen und alternativlosen Alternativen verharren zu müssen. Das zeigt sich hier erneut. Ein dritter Blick hätte gesehen, auf welches Potential eine Kultur zurückgreifen kann, die eine ikonografische Darstellung einer der zentralen Szenen der eigenen religiösen Erzählungen gleichzeitig unterschiedlich beobachten kann und mit dieser Gleichzeitigkeit umzugehen in der Lage ist. Ich würde empfehlen, das eher zu schätzen, statt den „Elfenbeinturm“ undifferenziert zum Gespött zu machen. Dass sich in der akademischen Welt vielerlei identitätsversessene Gruppen tummeln, die vom Dritten weiter entfernt sind als die Dragqueen in Paris von den Jüngern Jesu, ist unbestritten. Und ob einem dann die Ikonografie, die Ästhetik und die Performanz gefällt, ist eine nachrangige Frage, über die man auch reden kann.

 Zum Schluss noch ein Argument, warum gerade der Rückgriff auf Leonardo da Vincis Meisterwerk einer inneren Logik folgt. Es ist nicht die einzige Darstellung des Treffens der Jünger mit Jesus am Abend vor dessen Hinrichtung. Aber es ist die Darstellung, die anders als Darstellungen zuvor (und zum Teil danach) die beteiligten Personen als explizit verschiedene Personen mit je eigener Individualität darstellt. Es sind nicht einfach Personen des Typus Jünger, sondern konkrete Individuen. Die Jünger sind in dieser Darstellung keine Nebenpersonen im Dienste der Entfaltung einer eschatologischen Verheißung, sondern konkrete Menschen auf Augenhöhe mit dem menschgewordenen Gott. Zumindest ist das die Interpretation des Bildes durch den Soziologen und Kulturphilosophen Georg Simmel, der in der Darstellung da Vincis letztlich die Frage des Selbstverhältnisses des modernen Menschen angekündigt sah. Er schrieb 1905 dazu: „Das Lebensproblem der modernen Gesellschaft: wie aus individuell absolut verschiedenen und dabei gleichberechtigten Persönlichkeiten eine organische Geschlossenheit und Einheit werden könnte – ist hier in der Vorwegnahme durch die Kunst im Bilde gelöst.“ Die Darstellung dieser Szene auf der Eröffnungsfeier in Paris ist also alles andere als eine Verhöhnung des Letzten Abendmahls oder der eigenen Religionsgeschichte, sondern steht mit ihr in einer ästhetischen Kontinuität. Die Verhöhnung des Propheten mit all ihren sehr realen Risiken dagegen kann man sich nur wünschen, wenn man dieses eigene gar nicht verstanden hat, verstehen will oder schätzen kann.

Habe ich mir nun selbst widersprochen, wenn ich oben behauptet habe, man müsse Popkultur nicht erklären? Nein – denn man kann sie erklären. Die Sache selbst kommt aber ohne die Erklärung aus. Und wenn man nur nach Material für den Kulturkampf oder die Ressentimentpflege sucht, hilft ohnehin keine Erklärung.

Armin Nassehi, Montagsblock /284

29. Juli 2024