Montagsblock /273

Das größte Opfer dieser Tage ist das Dritte. Das Dritte hat einen schweren Stand. Es gibt fast überall nur zwei Seiten: gut oder böse, schwarz oder weiß, wahr oder falsch, wir oder sie. Klare Unterscheidungen innerhalb einer zweiseitigen Unterscheidung haben enorme Vorteile: Sie bringen Ordnung in die Welt, sie markieren Innenseiten und Außenseiten, und sie können die ganze Welt abbilden. Wer die ganze Welt in gut und böse einteilt, kann tatsächlich die ganze Welt erfassen, denn wenn man die Welt nur in dieser Unterscheidung sehen kann, erschließt sich damit tatsächlich die ganze Welt. Es ist dann nicht so, dass man nur einen Ausschnitt der Welt im Blick hat, sondern buchstäblich die ganze Welt.

Schon die klassische Regel des ausgeschlossenen Dritten – etwas ist entweder dies oder jenes – trägt genau genommen eine nicht ganz korrekte Bezeichnung. Denn es wird ja kein Drittes ausgeschlossen, vielmehr ist es aus der Binnenperspektive der zweiwertigen Unterscheidung gar nicht existent. Es befindet sich außerhalb des denkbar Möglichen. Denn um so etwas wie ein Drittes auszuschließen, bedürfte es einer Beobachterposition, die offensichtlich seltener wird: die Einsicht nämlich, dass es außerhalb der alternativlosen Alternative andere Möglichkeiten geben könnte.

Dies wurde und wird in der Logik lange diskutiert. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten begründet eine sogenannte zweiwertige, klassisch genannte Logik, die allerdings längst erweitert wurde. Es ist kein Zufall, dass es vor allem empirische Anwendungen waren, die dafür sorgten, mehrere, sogar unbestimmte mögliche Alternativen ins Kalkül zu ziehen. So ändern sich die Verhältnisse, wenn man die Zeit ins Kalkül zieht – es wäre dann denkbar, dass sich andere Unterscheidungs- oder Wahrheitswerte einstellen. Oder man denke an praktische Erfordernisse in der Informatik, in der etwa in Datenbanken, in Klassifikationssystemen auch unbestimmte Markierungen vorkommen können oder uneindeutige Möglichkeiten der Relationierung mit anderen Werten. Das erfordert dann eine flexiblere Verarbeitungsform und damit auch mehrwertige statt nur zweiwertige logische Formen, die gewissermaßen empirischer gebaut sind. Solche logischen Verhältnisse stoßen dann darauf, dass sich mit einer anderen Unterscheidung oder einer dritten Möglichkeit Perspektivenwechsel ergeben, die den Beobachter deutlicher ins Blickfeld rückt.

Der Beobachter, das ist dann die jeweilige Perspektive, und eine Verschiebung des Beobachterstandpunktes erzeugt dann tatsächlich eine andere Beobachtung – und würde man nun sagen: eine andere Beobachtung desselben Sachverhaltes, stieße man auf eine Paradoxie, denn der Gegenstand ist ja gerade durch die Beobachtung so, wie er ist (sic!).

Nun will dieser Montagsblock keine Einführung in das Verhältnis zwei- und mehrwertiger Logiken und ihre mathematischen Kalküle geben. Es soll vielmehr angedeutet werden, wie sehr zweiwertige Perspektiven, also die Zuweisung nur zweier Wahrheitswerte – in der Logik zumeist: wahr oder falsch – den Blick einschränken und Lösungen ausschließen, weil sie letztlich zu ewiger Alternativlosigkeit zwingen.

Sieht man sich derzeitige Auseinandersetzungen an, so scheinen diese oftmals verdammt zu sein, in der inneren Unendlichkeit ihrer eigenen Unterscheidung gefangen zu bleiben. Stabile Konflikte sind meist so gebaut: Sie ziehen dann alles in den Sog ihrer internen Logik und ermöglichen dann nur Reflexe – und je stabiler ein Konflikt ist, desto weniger lassen sich Konfliktlösungen jenseits der eingeführten Konfliktlogik denken. Das kann man zu spüren bekommen, wenn man sich als Dritter in Konflikte einmischt, nicht um Partei zu ergreifen, sondern die Konfliktparteien mit anderen Möglichkeiten auszustatten, mit anderen Optionen, mit Selbstbeobachtungschancen. Es kann dann bisweilen passieren, dass solche Intervention auf eine einige Front der Konfliktparteien stoßen: einig in der logischen Differenz ihrer Positionen.

Gerade die Diskurse um den Krieg in der Levante zeigen das deutlich. Es scheint nur noch die Alternative „Pro-Israel“ oder „Pro-Palästina“ zu geben, wobei diese Unterscheidung fast alles verdeckt, worum es in diesem Diskurs geht. Das ließe sich nur durch dritte Perspektiven entschlüsseln. Aber gerade an diesem angedeuteten Beispiel kann man sehen, wie schwer es ist, dritte Perspektiven überhaupt für möglich zu halten – ohne bestimmte Dinge zu relativieren. Eine komplexe, vielschichtige Gemengelage dampft sich ein in eine falsche Alternative und erzeugt Blindheit auf unterschiedlichen Seiten, Blindheit für den Ausgangspunkt des gegenwärtigen Geschehens am 7. Oktober und Blindheit für das antisemitisch-elminatorische Skandieren auf der einen Seite, Blindheit für die Nebenfolgen und die katastrophalen Konsequenzen durch die Reaktion auf der anderen.*

Die Folgen des 7. Oktober sind nur ein Beispiel für solche intellektuellen Verhältnisse Auch andere öffentliche Themen werden so ausgetragen – es sieht dann manchmal so aus, als könne man nur „für“ oder „gegen“ Klimaschutz sein, statt gerade hier die mehrwertigen Möglichkeiten zu bedenken, die sich geradezu empirisch aufzwingen. Dass das ökologisch Notwendige politische und ökonomische Folgen hat, ist für manche schon unvorstellbar. Auch hier braucht es mehrere dritte Blicke. In der Pandemie war es ähnlich. Dass jede Maßnahme zugleich richtig und falsch sein konnte, hat intellektuell überfordert. Und am Migrationsthema lässt es sich ebenso nachverfolgen wie an der Fundamentalkritik am politischen Gegner, die derzeit erhebliche Blüten treibt.

Will man intellektuell irgendetwas bewegen, muss man aus dieser Binarität ausbrechen und dritte Denkungsarten etablieren. Denn wenn es einen Beitrag von Intellektuellen, von Wissenschaftlern, von Reflexionsarbeit gibt, dann ist es sicher nicht, für operative Lösungen zu sorgen, sondern den Diskurs mit Abweichungen zu versorgen, mit mehrwertigen Beobachtungsformen, mit anderen Unterscheidungen, mit Transzendierungen binärer Denkgefängnisse. Dass es gerade nicht wenige, wenn man so will, Geistesarbeiter sind, die das kaum beherzigen, ist enttäuschend.

Wenn man all diese Themen unter der Programmformel der „Demokratie“ verhandeln will, sollte daran erinnert werden, dass diese Formel nicht einfach die Durchsetzbarkeit von Mehrheiten gemeint hat, denn dann wäre sogar ein Lynchmob demokratisch. Demokratische Formen müssen sich vor allem darum bemühen, die Minderheit loyal zu halten. Deshalb holen die politischen Systeme die Opposition mit in die staatlichen Institutionen, und Parlamente haben die Gegenrede geradezu institutionalisiert. Deliberation ist nur möglich, wenn Pluralismus der Rede ausgehalten werden kann. Politische Überzeugungen kann man nur haben, wenn es auch konkurrierende Überzeugungen gibt. Regierungen brauchen nur Gründe für ihr Tun, wenn andere Möglichkeiten sichtbar werden.

Und all das ist nur möglich, wenn es Nischen dafür gibt, aus der Zweiwertigkeit des immer schon Richtigen und der Selbstverabsolutierung herauszukommen. Demokratische Verfahren – Stichwort Loyalität der Minderheit – erzwingen fast dritte Blicke, etwa in Form des Kompromisses oder der zeitlichen Dehnung von Kooperation. Das Dritte meint dabei nicht Konsens (zumal es im Politischen immer um Machtchancen und Gefolgschaft geht) – wer Konsens erwartet, wird fast immer enttäuscht werden. Es geht darum, Differenz auszuhalten, Ambiguität zu verarbeiten, role taking zu ermöglichen. Die Binarität des Guten und des Bösen, des eigenen und des anderen führt am Ende dazu, dass es in jeder Frage ums Ganze geht – und das kann nicht gut ausgehen.

Das Schlimmste an den vorstehenden Überlegungen ist ihre Naivität – Naivität im Hinblick darauf, warum Akteure auf ihre sicheren Positionen, ihre Lieblingsfeinde, Projektionen und Pappkameraden, auf ihre Machtchancen verzichten sollen, wenn sie doch gut damit fahren (und es zum Teil curricular gelernt haben). Gerade in Zeiten größter und harter Auseinandersetzungen und Positionen klingt all das noch naiver. Vielleicht ist es gerade deshalb angezeigt, in aller Naivität aus einer Position der Distanzierung statt unbedingten Engagements engagiert auf die Folgen des Verzichts auf das Dritte hinzuweisen. Vielleicht zeichnet sich zivilisiertes Verhalten dadurch aus, dass man erstens nicht gleich alles sagt, was einem in den Sinn kommt (weswegen Twitter/X und Co. so eskalierende Medien sind), und zweitens wenigstens zu verstehen versucht, wie manche Zweiseitigkeit zustandekommt. Übrigens eröffnet das auch eher Machtchancen, weil dann das eigene Argument sich zugleich ein ökologisches Milieu schaffen kann, in dem es eine Wirkung haben könnte.

Armin Nassehi, Montagsblock /273

13. Mai 2024

* Ausführlich dazu Armin Nassehi: Ein dritter Blick ist nötig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.04.2024.

Lesetipp:

Instruktiv zu den performativen Bedingungen demokratischer Kommunikation vgl. Daniel-Pascal Zorn: Logik für Demokraten. Eine Anleitung, Stuttgart 2017.