Vielleicht muss man einmal unfertige Gedanken ausprobieren, um auf angemessene Fragen zu kommen. Ein Gedanke, der mich seit längerer Zeit verfolgt, hat viel mit der Wiederkehr des Nationalen, auch des Nationalistischen zu tun. Es sind vor allem rechtspopulistische Bewegungen, die auf eine Re-Ethnisierung von Konflikten bauen, auf eine Instrumentalisierung des Nationalen, auf eine Kritik an supra- und internationalen Institutionen, auf Innen/Außen-Dichotomien. Aber auch mit linken Denkungsarten scheint das kompatibel zu sein – etwa mit dem Gedanken der Geschlossenheit der Solidargemeinschaft und ebenso mit einer Kritik an supranationalen Orientierungen. In der Frankreich-Wahl sind beide Seiten deutlich geworden, in Deutschland konzentrieren sich die Dinge stark auf die AfD und ihre erwartbaren Erfolge, die zumindest in einigen Ländern erheblich sein könnten. Aber diskursiv geht das weit über die unmittelbare Klientel der AfD hinaus – und das Retortengebilde BSW, das vor allem in den Talk-Shows bereits die 30-Prozent-Hürde genommen hat, kann geradezu als Inkarnation rechter wie linker Schließungsfantasien gelesen werden.
Nicht umsonst gilt Migration in politischen Umfragen für etwa die Hälfte der Befragten als das wichtigste Thema – übrigens interessanterweise kombiniert mit Umfrageergebnissen, nach denen der Rechtspopulismus ebenfalls von fast der Hälfte der Befragten als größte Gefahr für die Demokratie angesehen wird. Man traut diesen Leuten also nicht einmal Lösungen zu, wie überhaupt in Umfragen die Kompetenzwerte dramatisch niedrig sind, auch gegenüber der AfD. Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen, bilden sie doch am Ende nur die Dimensionen des Sagbaren ab – aber gerade das ist ja interessant. Jedenfalls kann man kaum daran vorbeisehen, dass die Re-Ethnisierung und die Re-Nationalisierung, vielleicht sogar die Re-Konfessionalisierung von Konfliktlinien derzeit einer der größten Trends ist, mit denen man sich einen Reim auf die Dinge macht.
Das zu diagnostizieren, heißt übrigens nicht, dass Migration keine Probleme erzeugt – ganz im Gegenteil. Aber die Wahrnehmung dieses Themas ist geradezu vollständig von jener Re-Nationalisierung, Re-Ethnisierung und Re-Konfessionalisierung des Denkens geprägt.
So weit, so bekannt. Diese meine etwas holzschnittartige Beschreibung könnte übrigens durch den Einwand relativiert werden, der Nationalismus und die Zurechnung aufs Ethnische sei letztlich nie verschwunden. Dieser Einwand ist berechtigt, aber dennoch werden hier Formen sichtbarer als noch vor einiger Zeit, als man eine Relativierung solcher eindeutiger Zurechnungsformen diagnostizieren konnte. Worauf ich aber hinaus will, ist etwas anderes. Was üblicherweise als Identitätspolitik gescholten wird, findet nicht nur (aber sehr deutlich: auch) in den sogenannten „woken“ Bewegungen statt. Die Verschiebung von Sachfragen auf Zugehörigkeitsfragen ist eine Erscheinung in unterschiedlichen politischen und kulturellen Spektren.
Der Gedanke, der mir dazu kam, ist einer, über den noch genauer nachzudenken wäre. Aber womöglich stimmt es, dass diese Wiederkehr auf ein dunkles Geheimnis jener westlichen modernen Gesellschaftsformation aufmerksam macht, die mit politischer Demokratie, staatlicher Ordnung, sozialmoralischem Pluralismus, sozialstaatlicher Integration und deliberativen Öffentlichkeiten beschrieben werden kann. Der Beginn dieser Ordnung war tatsächlich verbunden mit diesen institutionellen und organisatorischen Arrangements, die eine eher lose Kopplung von Individualität und gesellschaftlichen Zentralinstanzen erlaubt hat. Das rechtsfähige Subjekt, der Staatsbürger, der Marktteilnehmer, der Teilnehmer an Bildungsprozessen und öffentlichen Diskursen, der Konsument und der Träger von Geschmackskriterien lebte nicht mehr in kompakten Verhältnissen der alten Welt, sondern zunehmend als individuelle Existenz mit vielfältigen, zum Teil unvermittelten Andockstellen an die „Gesellschaft“ und eigenen „Meinungen“ und geforderter Urteilskraft – in Wahlen, auf Märkten, in der Bildung usw. Der Mensch war dann zugleich unterbestimmt im Sinne kompakter praktischer Zugehörigkeit und überbestimmt durch die Institutionen und Lebensmodelle und semantische Angebote in unterschiedlichen Schichten, Klassen und Milieus.
Aber die Funktionsstelle einer kompakten Zugehörigkeit und der Zumutung der Anspruchsberechtigung musste nun geradezu künstlich erzeugt werden – weil durch die lose Kopplung quasi-natürliche Zugehörigkeiten parallel zu Tätigkeiten, Familien, Regionen etc. schwächer wurden. Das ist das grundlegende Thema der ersten Soziologiegeneration, am dringlichsten formuliert von Emile Durkheim, der eine Solidarität, die auf Ähnlichkeit beruht, verschwinden sah zugunsten einer Solidarität, die auf Verschiedenheit und Differenz basierte. Diese Beschreibung bildet die Komplexität der modernen Gesellschaft gut ab – und mündet dann in der Frage, welches neue Band diese Verschiedenheit beschreibbar macht und zusammenhält. Er schlug eine neue Form der Moral vor, eine abstrakte Moral, eine, die Unterschiedlichstes unter sich vereinen kann und Differenz und Einheit versöhnt.
Das ist schön gedacht – aber soziologisch unbefriedigend. Aber darüber will ich nicht reden. Eher, dass es (mehr implizit als explizit) die Funktionsstelle des einzigen Bandes beschreibt, das die frühe Moderne kannte: die Nation (ohne sie freilich explizit zu nennen). Und darin zeigt sich auch ihr historisches Doppelgesicht: einerseits als emanzipatorische Form der Zugehörigkeit gegen die alte Obrigkeit. Sie ermöglichte einen inklusiven Begriff des „Volkes“ als Gegenbegriff gegen die Eliten; andererseits als exklusive Form der Abgrenzung des eigenen „Volkes“ gegen ein Äußeres. Die emanzipatorische Form der Nation als Träger der Demokratie lässt sich historisch nicht ohne die exkludierende Form der Nation nach außen denken. Es waren diese Nationen die Subjekte, die Kriege gegeneinander geführt haben, auch um sich nach innen zu stabilisieren.
Das dunkle Geheimnis ist, dass das eine nicht ohne das andere zu haben war. Vielleicht, wirklich vielleicht, war die politisch und ökonomisch prosperierende Phase des Westens nach der Katastrophe ab 1945, die wir in unseren Begriffen, in unserem Selbstverständnis, in unserer Vorstellung von „Normalität“ stets mitführen, die große historische Ausnahme, in der jene nationale/ethnische Integration in ihrer Doppelgesichtigkeit wenn nicht überwunden, so doch zeitweise suspendiert werden konnte – mit wiederkehrenden Rückschlägen. Und es war der Grundkonflikt der klassischen Industriegesellschaft, der das Unterschiedliche in eingeführten politischen Konflikten, in Milieuarrangements und durch institutionelle Kontinuitätsversprechen zusammengehalten hat – weniger durch eine große Zusammengehörigkeitserzählung im Sinne von Durkheims neuer „Moral“. Vielleicht war es eine Welt, in der fehlende Sachorientierung wenigstens weniger durch kompakte Formen der Zugehörigkeit und der Identität kompensiert wurde.
Vielleicht erscheint dies heute als historische Ausnahme, weil die Logik jener nationalen, ethnischen, konfessionellen Integrationskraft derzeit eine solche Wucht entfaltet – kombiniert mit der Enttäuschung über die historischen Kontinuitäten.
Mit etwas mehr historischer Tiefenschärfe verbietet es sich, von einer Rückkehr zu sprechen, von einem Scheitern, von einer ewigen Wiederkehr des Gleichen. Die Welt ist heute eine andere als nach dem Wiener Kongress oder zu Ende des 19. Jahrhunderts. Aber sie ist offensichtlich auch eine andere als die, die sie vielleicht nie war. Die Konzentration auf Zugehörigkeit und Identität scheint derzeit unter anderem die Funktion zu haben, Sachfragen aus dem Weg zu gehen. Wenigstens in dieser Hinsicht gibt es eine historische Kontinuität.
Das dunkle Geheimnis könnte in die Frage münden: Wieviel an universalistisch unangemessener Form von Zugehörigkeit ist nötig, um die universalistischen Geltungsansprüche jener westlichen Standards aushalten zu können, die sich immer wieder selbst dementieren. Selbst Jürgen Habermas, der gerade 95 gewordene philosophische Kronzeuge jenes westlichen Nachkriegsuniversalismus, hat in seiner „anderen“ Geschichte der Philosophie darauf gedrungen, interne Pluralisierung im Hinblick auf gemeinsame Hintergrundüberzeugungen nicht zu übertreiben.
Das dunkle Geheimnis besteht vielleicht darin, dass man auf jene Bindekräfte, die man wenigstens semantisch braucht, gesellschaftsstrukturell nicht bauen kann. Die starken Zugehörigkeitsansprüche und -ablehnungen jedenfalls scheinen eine kompensatorische Funktion zu haben, die man ernst nehmen muss. Theoretisch würde das bedeuten, an der Theorie funktionaler Differenzierung weiterzuarbeiten, diese kompensatorische Funktion vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Komplexitätsformen zu rekonstruieren; praktisch und politisch würde das bedeuten, ein Maß dafür zu finden und die Bedingungen für die Bewältigung von Komplexität auszuhalten. Wie gesagt – es ist noch ein unfertiger Gedanke.
Armin Nassehi, Montagsblock /282
15. Juli 2024