Die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen ziehen mehr und mehr Reaktionen nach sich, in denen erkennbar wird, wie das Schwarz-Weiß-Denken mittlerweile die Debattenhoheit übernommen hat. Kategorische und pauschale Urteile regieren den öffentlichen Diskurs. Was zur Folge hat, dass wir in denselben Sog geraten, uns eindeutig festzulegen, ob wir dafür oder dagegen sind. Der französische Philosoph Frédéric Gros hat kürzlich in einem Interview gesagt: „Krieg basiert immer auf einer Verarmung von Intelligenz. Er lässt die Gräben in unserer immer größer werdenden Vorliebe für das Schwarz-Weiß-Denken immer tiefer werden.“
Die Folge ist das subjektiv sichere Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Inklusive der schwarz oder weiß zugelassenen richtigen Sätze. So hat sich mittlerweile über beide Kriege eine Art von manichäischem Dualismus gelegt – zwischen dem Westen und dem Rest der Welt, zwischen Zivilisation und Barbarei zwischen liberaler Demokratie und despotischer Diktatur.
Die Welt zerfällt in sich zurückziehende Fragmentierungen. Von dort aus wird mit klebrigen Fingern auf andere gezeigt. Putin nennt die Ukrainer Faschisten, Biden ist für Trump der schlechteste Präsident aller Zeiten und Netanjahu soll ein Babymörder sein. Der Shitstorm ist schneller als jede Perspektivenvielfalt. Noch bevor differenziertere Erwägungen stattfinden können, erfolgt das bestätigende Ja oder Nein aus den Echokammern medialisierter Selbstermächtigung. Abgestempelt kommt von abstempeln.
Die Folge: Die Gedankenvielfalt ist bedroht. Differenzieren, berücksichtigen, abwägen oder überdenken gehören vielerorts nicht mehr zum Standardbaukasten politischer Vernunft. Nehmen wir als Beispiel die Gräueltaten des Hamas-Massakers am 7. Oktober letzten Jahres. Darf ich die Frage stellen? War das ein Pogrom, ein Kriegsverbrechen oder ein Terroranschlag? Schnell kommt die Einsicht, dass in jedem dieser Begriffe nur ein Teil der Wahrheit steckt. Genauso wie in der israelischen Reaktion. Ist die israelische Militäroffensive im Gaza die Ausübung eines legitimen Rechts auf Gegenwehr, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung oder Völkermord?
Das Fatale besteht darin, und dafür möchte ich in diesem Montagsblock kurz sensibilisieren, dass man mit jeder exklusiven Verwendung eines Begriffs sofort Partei ergreift und andere Deutungen ausschließt. Jeder Begriff verurteilt, rechtfertigt oder kritisiert mit einer Eindeutigkeit, die keine Verbindungs- oder Versöhnungslinien mehr sucht. Frédéric Gros schlussfolgert im bereits erwähnten Interview: „Die Dinge zu benennen, über Bezeichnungen zu diskutieren, Ereignisse in einen Kontext zu stellen und in die Geschichte einzuordnen, ist Teil von Friedens- und Versöhnungsprozessen, denn dann geht es in der Tat um den Versuch, sich ohne Gewaltausübung auf eine Geschichte zu einigen.“
Eines ist sicher. Die Kriege in Gaza und in der Ukraine werden eines Tages enden. Stellen sich weitere Fragen und Anschlussmöglichkeiten. Kann aus den militärischen Feindseligkeiten und Gewalttätigkeiten ein echter Frieden entstehen? In der Ukraine wartet womöglich ein militärisches Patt darauf, wieder das Vernichten des anderen zu wollen? Und wird die Hamas von ihren iranischen Freunden wieder aus den Trümmern hochgepäppelt?
Eines wird auch dann gelten: Begriffliche Wahrheit schafft keinen Frieden. Aufklärung ist das mühsame Geschäft des Erzeugens von Meinungs- und Gedankenvielfalt und eines Austausches, der sich auch den eigenen begrifflichen Widersprüchen und Paradoxien gewahr werden will. Verurteilen kann man hier nur das vorschnelle Urteil.
Peter Felixberger, Montagsblock /280
01. Juli 2024