Montagsblock /279

Einer von uns, liebe Sibylle und lieber Peter, muss schon etwas über Fußball sagen, oder? Es ist EM. Okay, ich mach‘s. Es ist aber riskant – deshalb, weil es immer wieder intellektuelle Sublimierungen dieses eigentlich einfachen Spiels gegeben hat. Legendär ist Karl-Heinz Bohrer, der Günther Netzer „aus der Tiefe des Raumes“ kommen sah, mit einem besonderen „thrill“, der dem Spiel eine geheimnisvolle Note gab. In seinem Essay „Lob des Sports“ begeisterte sich Hans Ulrich Gumbrecht für „Epiphanien der Eleganz“, für „schöne Körper“ und „Anmut und Eleganz“, und Ulrich Beck feierte den WM-Sieg der Franzosen 1998 als Sieg von „black-blanc-beur“ (beur bezeichnet ein in Frankreich geborenes Kind maghrebinischer Einwanderer) statt „bleu-blanc-rouge“. Für Beck war es der Triumph dessen, was er damals „Kosmopolitismus“ genannt hatte, also in der Diktion Gumbrechts auch anmutige schwarze Körper.

Man kann daran sehen, wie erwartbar die Dinge sind, wenn man genauer hinsieht, welches Geschäft wer so betreibt. Was sollen Intellektuelle sonst machen, als diese Dinge zu preisen – absehen kann man davon, dass der Fußball auch dann spannend ist, wenn man nicht wie Günther Netzer über den Platz schwebt, wenn es weniger anmutige, sondern auch rumpelnde Körper sind, und oft ist der Fußball alles andere als kosmopolitisch, sondern auch instrumentalisierbar für nationalen Chauvinismus und Fangewalt. Mancher verspricht sich sogar von einer gut gespielten EM wichtige Impulse „für das Land“ – andere werden in einem frühen Ausscheiden der deutschen Mannschaft eine Parabel für die Ampelkoalition sehen und in dem Sieg über Ungarn eine ziselierte Ideologiekritik von Orbans Nationalismus (der sich beim Spiel seiner Ungarn gegen Deutschland übrigens im Stadion mit einem halbgaren AfD-Politiker ablichten ließ). Und dass man in all dem nur ein Geschäft sieht, mit dem viel Geld verdient wird, verweist auf den globalen Kapitalismus, mit dem man nun wirklich alles erklären kann.

Fußball ist dabei eine so große Macht, dass man ihn für alles Mögliche in Anspruch nehmen kann. Fußball ist für alle da. Ich wurde letzte Woche um ein Radiointerview gebeten, in dem ich die vielen Flaggen (die bei einer Europameisterschaft natürlich keine Schalke- oder Bayernfahnen sind, sondern Nationalflaggen) kritisieren sollte, die für einen radikalen Nationalismus stehen – gemeint waren übrigens vor allem die deutschen Flaggen, das schottische Blau-Weiß (nein, kein Schalke-Blau-Weiß!) fanden sie aber sympathisch, auch wegen der Dudelsäcke. Wie gesagt. Fußball ist für alle da (ich habe das Interview übrigens abgesagt).

Nun müsste ich den Montagsblock hier eigentlich abbrechen, denn, wenn ich mich nicht weiter über alle diese Instrumentalisierungen des Fußballs auslassen, sondern wirklich etwas über Fußball sagen werde, könnte mir das als Widerspruch ausgelegt werden. Aber das Risiko gehe ich ein – in Fußballersprache: Man muss dort hingehen, wo es wehtut.

Denn dass es (zumindest in sehr vielen Weltgegenden) vor allem der Fußball ist, der tatsächlich kultur-, religions-, raum- und ideologieübergreifend geliebt wird, müsste man irgendwie erklären können. Ich glaube, es ist ein Theorem, das aus den 1950er Jahren stammt – für mich als bekennendem Schalke-Anhänger etwas demütigend einem ehemaligen Spieler von Borussia Dortmund zugerechnet, nämlich Adi Preßler. Das Theorem ist sogar reflexiv, weil es auf den Theoriestatus selbst verweist. Es lautet: „Grau is alle Theorie – entscheidend is auf‘m Platz.“ Vielleicht ist darin alles aufgehoben, was Sport im Allgemeinen und Fußball im Besonderen so attraktiv macht.

Es ist ein banaler Gedanke: Man weiß vorher nicht, wie es ausgeht. Wo hat man das schon? Sieht man sich öffentliche Debatten an, folgt das Meiste merkwürdigen Drehbüchern – man weiß oft vorher, wer welches Argument zu welchem Behufe beizutragen hat. Dass Interessenvertreter, Verbandsvertreter oder pressure-groups so argumentieren, wie sie es stets tun, ist ihr Geschäftsmodell. Selbst politische Wahlen sind durch einfache Befragungen erstaunlich gut vorhersagbar. Die Spannung in einem Film oder einem Roman ist eine inszenierte Spannung – man kann zwar vom linearen Verlauf der Erzählung überrascht werden, aber es ist das Ergebnis eines auktorialen Erzählers, der alles so angeordnet hat, dass es aufgeht –, und wenn man einen Film ein zweites Mal sieht oder ein Buch ein zweites Mal liest, geht es wieder so aus wie zuvor.

Fußball ist anders. Es ist der Einbruch der echtzeitlichen Überraschung in kalkulierbare Trägheiten und Regelmäßigkeiten. Tatsächlich, entscheidend is auf’m Platz. Das Spiel ist völlig offen. Ja, die Wahrscheinlichkeit, dass der Rekordmeister (aber gerade nicht amtierende Meister) FC Bayern gegen den Drittligisten Saarbrücken gewinnt, ist sehr hoch. Aber 2023 haben die Saarländer gegen die Bayern im DFB-Pokal gewonnen – und das ausgerechnet am Allerheiligentag (dem im katholischen Kirchenjahr am 2. November der Allerseelentag folgt, an dem der armen Seelen im Fegefeuer gedacht wird. Das dürfte am 2.11.2023 für die Bayern gut gepasst haben).

Sport, vor allem Sport vor Publikum, führt Ergebnisoffenheit vor. Niemand kann sich sicher sein, wie es ausgeht. Es wird unglaublich viel geredet, es gibt Expertise, zumeist ehemalige Helden des Fußballs, sie können es erklären und gelehrte Sätze sagen. Aber gerade diese Sätze sind in ihrer beflissenen Form wunderbare Kontrastfolien dazu, dass das Spiel in Echtzeit so läuft, wie es läuft. Man weiß nicht, wie es ausgeht. Sobald der Anpfiff ertönt ist, spielt der Marktwert der Spieler, die Reputation der Teams, die Performance der Trainer keineswegs keine Rolle – das zu behaupten wäre naiv. Aber es steht zur Disposition. Auf dem Platz ist das letzte Gericht, vor dem einem nichts mehr hilft. Es schnurrt sich darauf zusammen, ob der Ball reingeht oder nicht. Und ein Tor ohne Eleganz und Anmut, geschossen von keineswegs schönen Körpern, ganz ohne die Ästhetik der Tiefe des Raums, zählt genauso wie das wunderschöne Jahrhunderttor von Klaus Fischer – ein Fallrückzieher in einem Länderspiel 1977 gegen die Schweiz. Fischer, eigentlich Niederbayer, war übrigens Schalker, hätte ich ihn sonst erwähnt?

Alle beklagen die Unerklärbarkeit und Unkalkulierbarkeit der Welt. Die 90-minütige Unkalkulierbarkeit eines Fußballspiels versöhnt mit Unkalkulierbarkeit und Offenheit und belohnt das mit einem klaren Ergebnis. Womöglich ist diese Offenheit der Situation, die erhebliche Kontingenz des Ergebnisses nicht wirklich intellektualisierbar. Es ist die Unbestimmtheit in Reinform – und folgt doch wieder Regelmäßigkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Das ist vielleicht das Schönste am Fußball – und zugleich ist der Algorithmus so simpel, dass man nichts vom Fußball verstehen muss, um Fußball zu verstehen. Der Fußball hat keine Geheimnisse – das ist sein Zauber. Keine Geheimnisse, außer das Ergebnis. Es ist Unkalkulierbarkeit in einem kalkulierbaren Rahmen. Nach 90 Minuten kann man sich erklären lassen, warum es exakt so kommen musste.

Wenn sie dann nicht weiter wissen – interviewte Spieler, Trainer, Journalisten, Prominente –, sagen sie das zweite Theorem auf, das es in sich hat. Es ist eine ontologische Formel, es bringt das Sein der Angelegenheit auf einen schlichten Begriff. Das Theorem lautet: „So ist Fußball.“ Danach kann nichts mehr kommen.

(Geschrieben habe ich diesen Montagsblock übrigens schon am vergangenen Donnerstag, während die Übertragung des Gruppenspiels Schweiz gegen Schottland lief. Es ist 1:1 ausgegangen. Wer hätte das gedacht? So ist Fußball.)

Armin Nassehi, Montagsblock /279

24. Juni 2024