Montagsblock /276

Sorry, ich habe für diesen Montagsblock ein spannendes Thema (was mit Social Media), aber zuvor müssen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, durch ein paar abstrakte Gedanken:

Dynamische Ordnungen sind Ordnungen, die sich durch je gegenwärtige Ereignisse reproduzieren. Ereignisse muss man als gegenwärtige, verschwindende, zerfallende, flüchtige Formen denken. Dynamisch würde man solche Ordnungen nennen, weil sie sich gewissermaßen immer wieder reproduzieren müssen – man denke etwa an ein Gespräch, das aus Äußerungsereignissen besteht, die sich nacheinander ablösen, die nach der Äußerung zerfallen und Platz für neue Äußerungen in nächsten Gegenwarten machen. Das Dynamische daran stellt auf die unvermeidliche Bewegung, auf Ereignisse und ihr Verschwinden ab.

Der Aspekt der Ordnung aber stärkt eine andere, nicht gegenteilige, aber anders gelagerte Hinsicht. Denn eine Ordnung eine Struktur, eine Gestalt, eine Identität, einen „Sinn“ können Ereignisreihen nur haben, wenn sie sowohl ereignisoffen als auch nicht-beliebig sind. Am Beispiel eines Gesprächs wird das deutlich: Prinzipiell kann auf eine Äußerung nachgerade alles andere folgen, also jede beliebige Anschlussäußerung. Aber empirisch gesehen ist das nicht der Fall. Die Wahrscheinlichkeit bestimmter unterschiedlicher Anschlüsse ist durchaus eingeschränkt, durch die Situation, durch Erwartungen, auch durch den Verlauf des Gesprächs selbst. Man spricht dann in Bezug auf die Voraussetzungen des Gesprächs von sozialen Strukturen oder Erwartungen, in Bezug auf das Gespräch selbst von sich selbst dynamisch bildenden Pfadabhängigkeiten. Man kann sich in einem Gespräch vornehmen, etwas Bestimmtes unbedingt gesagt haben zu wollen und wird dann von der Eigendynamik des Gesprächs überrascht, so dass man dies nicht mehr sagen kann – oder nur noch um den Preis einer „Ordnungswidrigkeit“, also eines Durchbrechens einer entstandenen Ordnung des dynamischen Gesprächs, die zwar eine dynamische aber keineswegs eine zufällige oder beliebige Ordnung ist.

Man könnte sagen, dass Ordnung in solchen ereignisbasierten Systemen sich immer gegen den Zerfall wehren muss: Obwohl in jeder Gegenwart etwas Neues geschehen muss, muss irgendwie dafür gesorgt werden, dass dieses Neue nicht wirklich neu ist. Das würde alle Beteiligten überfordern, auch die Möglichkeit sinnhafter Bezugnahmen. Und so ist soziale Ordnung tatsächlich ein Aufbäumen gegen zu viele Alternativen, sie ist ein Versuch, prinzipiell fast unendlich viele Möglichkeiten einzuschränken auf verarbeitbare Möglichkeiten. Soziale Ordnung stemmt sich gegen Unordnung durch einen Mechanismus der Wiederholung und Bestätigung von Ereignissen in einem bestimmten Rahmen.

Techniken dafür sind Sozialisationsformen, Erfahrungen, Denkstrukturen, soziale Erwartungen, Kultur im weitesten Sinne, Konventionen und praktische Gewohnheiten – sie lenken den Dauerzerfall von Ereignissen in strukturierte Bahnen. Andere Techniken sind Medien, die Formen auf Dauer stellen wie Sprache, Schrift, Buchdruck, Massenmedien, Bilder usw.

Alle Struktur muss sich in jeder Gegenwart neu bestätigen – und wäre das nicht so, könnten Ordnungen nicht variieren oder sich verändern. Deshalb ist eine der wichtigsten Kultur- und Sozialtechniken das Vergessen, sowohl das psychische Vergessen als auch das soziale und kulturelle Vergessen, also die Fähigkeit, auf bestimmte Muster nicht mehr zurückzugreifen. Der Dauerzerfall von Ereignissen ist es, der Ordnungen dynamisch macht, und zwar sowohl in ihrem Aufbau wie in ihrer Selbstveränderung. Vergessen heißt Nichtberücksichtigung von Vergangenem, heißt: andere Pfadabhängigkeiten, heißt auch: Lernen. Solches Vergessen ermöglicht es Gesellschaften, alles Mögliche auszuprobieren und über das meiste den Mantel des Schweigens zu legen. Ebendeshalb ist ein historischer Blick ein Gegenwartsblick, der das Vergangene als ein Vergangenes rekonstruiert, wie es aus der jetzigen Perspektive erscheint. Geschichte muss gewissermaßen anders, systematischer vergessen.

Das sicher revolutionärste Speicherungsmedium ist die Schrift und daraus abgeleitet das gedruckte und vervielfältigte Buch. Die Bibliotheken sind voll von all dem, was praktisch vergessen wurde. Bibliotheken sind Speicher – aber in vielerlei Hinsicht auch geschlossene Speicher, in denen man immer wieder „Neues“ finden kann, was vergessen wurde, das aber in einer Kombination von Erreichbarkeit und Nicht-Erreichbarkeit verharrt. Papier sei geduldig, heißt das dazugehörige Sprichwort, was dann wohl heißt, dass das archiviert Gedruckte mit Vergessen kompatibel ist.

Das gilt für neuere Medien nicht, vor allem nicht für die sogenannten sozialen Medien. Sie stemmen sich nachgerade sichtbar gegen das Vergessen. Sie bestehen zwar erst recht aus dauerzerfallenden gegenwärtigen Ereignissen, gut ästhetisiert in der Listenform von Facebook-, Instagram- oder Twitter/X-Einträgen. Die Präsenz der Mediengegenwart in Social Media ähnelt fast dem, was Husserl in seiner Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins die urimpressionale Gegenwart genannt hat – sie blitzt unmittelbar auf, um sogleich zu verschwinden. Aber gerade die Dokumentationsform in Gestalt von Listungen und die niedrigschwellige Erreichbarkeit verhindert das Verschwinden. Gekoppelt ist dieses Ordnungsprinzip noch mit dem zweiten Ordnungsprinzip neben den temporalisierten Listen in Form der deutlichen Zurechnung auf „accounts“, die zumeist für Personen oder Personenschablonen stehen. Die Gegenwart der zerfallenen Ereignisse werden so sehr gedehnt, dass Vergessen erheblich erschwert wird und Zurechnungsformen bleiben.

Die in der Gesellschaft vielleicht verbreitetste Form der Kommunikation dürfte die Kommunikation unter Anwesenden sein – flüchtig und mit dem Ende von Anwesenheit aufgelöst und verschwunden, allenfalls mit Spuren in der psychischen Erinnerung der Beteiligten. Die Sozialen Medien transportieren diesen Aspekt der Unmittelbarkeit der mündlichen, der Anwesenheitskommunikation, also das Echtzeitliche, das Flüchtige, das Unmittelbare, das wenig Reflektierte, das Variantenreiche in eine gespeicherte Form – zwar in einer kaum aushaltbaren Schnelligkeit auf Gegenwart getrimmt, aber durch die nachträgliche Erreichbarkeit auf eine gedehnte Gegenwart gebracht.

Das bürgerliche Individuum konnte die Protokolle des eigenen Lebens und Denkens noch im Tagebuch oder in der gepflegten Salonrede selbst inszenieren, selbstkontrolliert, strategisch und authentisch zugleich. Das Social-Media-Individuum inszeniert zwar die ganze Zeit, hat aber keine Chance auf und Zeit für Selbstkontrolle. Es kann nicht aus vergangenen Gegenwarten gegenwärtige Vergangenheiten konstruieren und sich zurechtlegen – es wird mit vergangenen Gegenwarten unmittelbar konfrontiert.

Es entsteht dadurch eine nachbürgerliche Steigerung bürgerlicher Zurechnung aufs Individuum oder Subjekt. Es kann permanent konfrontiert werden mit Dingen, die es ohne großen Rationalitätsaufwand von sich gegeben hat. Aus mehreren spontanen Likes entsteht dann ein Charakterbild, mit dem man seine Reputation verlieren kann, durch kleine Äußerungen kann man kontextualisiert werden – und umgekehrt wird diese Nicht-Vergessensmaschine auch genutzt, um herauszubekommen, ob jemand prinzipiell reputierlich genug ist, um zu einem Vortrag, einem Stipendium oder einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden.

Man kann als in den 1960er Jahren Geborener froh sein über die Gnade des unwiederbringlichen Vergessens all der spontanen Äußerungen in jungen Jahren, mit denen man nicht mehr konfrontiert werden kann, weil sie nicht protokolliert worden sind – alles vergangene Gegenwarten. Das hat sich geändert – und dann auch noch in Zeiten, in denen es noch viel wichtiger geworden ist, wer man in Distinktion zu wem eigentlich sei. Nicht, dass es früher keine Distinktion gegeben habe, aber die Kriterien der Distinktion waren viel grobschlächtiger als heutzutage, in denen schon Mikroabweichungen einen Informationswert haben.

Der Zeithaushalt der gesellschaftlichen Praxis hat sich durch Soziale Medien erheblich verändert – auch die Form der Empörungsbereitschaft, denn es liegt ja alles positiv vor. Die aktuellen Beispiele machen das nur allzu deutlich – vor allem, dass aktives Vergessen nicht geht und noch weniger Kommunikation von aufrichtigem Bedauern ohne unmittelbare Anwesenheit. Diejenigen, die die Skandalisierung etwa der jungen Leute auf Sylt kritisiert haben, haben bisweilen alte Boomer darüber belehrt, dass die Sache nicht so schlimm sei, denn das Lied und der Text sei doch inzwischen ein Meme. Die Boomer-Antwort lautet: Eben! Das Nicht-Vergessen-Können in den Sozialen Medien wirkt nämlich zurück auf das Verhalten derer, die diese Medien benutzen: Sie erinnern sich an das Unvergessliche und singen es mit. Die Sylter hatten nur Pech, dass ihre Getränke, Polo-Shirts und Blusen teurer waren als die anderer Dumpfbacken. Aber das ist ja nur ein Hinweis darauf, dass auch die groben Distinktionslogiken noch funktionieren.

Ich selbst erinnere mich übrigens an einen Vortrag, den ich Mitte der 1990er Jahre einmal auf einer Tagung in Münster gehalten habe – es ging um Ausländerfeindlichkeit, und ich habe damals schon den entsprechenden Text zitiert, der jetzt zu einem italienischen Schlager (den ich gar nicht kannte) geträllert wird. Denn diese Sentenz gabs schon in den 90ern – die Meme-Produzenten heutiger Tage greifen im Hinblick auch auf die Social-Media-Epoche auf historische Vorzeiten zurück.

Ich habe das dann auf andere Länder übertragen, um zu zeigen, dass es solche Dussligkeiten nicht nur bei uns gibt. Ich habe mich dann etwas versprochen mit dem Beispiel „Dänland den Dänen!“ Der Saal hat sehr gelacht. Wäre das möglich gewesen, hätte das bestimmt jemand getwittert. So bin ich der einzige, der sich nach 30 Jahren noch daran erinnert. Übrigens gehörte Sylt bis zum Deutsch-Dänischen Krieg 1864 zu Dänland.

Armin Nassehi, Montagsblock /276

03. Juni 2024