Montagsblock /277

Das neue Kursbuch „Von Natur aus“ ist soeben erschienen. Darin habe ich die Philosophin Eva von Redecker interviewt. Hier der Anfang des Gesprächs, die ausführliche Fassung dann zum Weiterlesen im Kursbuch 218, warum sie liberaler denkt, als sie kritisiert wird, und wie eine ökologische Revolution aussehen könnte. Zentrale Begriffe: Bleibefreiheit und Regenerationsarbeit. Redecker sagt: „Bleibefreiheit bedeutet, im Bleiben frei zu bleiben, auch frei zu sein, abzureisen und wegzuziehen. Bleibefreiheit setzt Bewegungsfreiheit voraus. Wenn ich aber nur gehetzt werde und keine Rast mehr einlegen kann, nützt mir die Bewegungsfreiheit gar nichts.“

 

Kursbuch: Sie sind auf einem Bauernhof aufgewachsen. Als Bauerntochter in der ländlichen Abgeschiedenheit?

Eva von Redecker: Den Hof gibt es immer noch. Meine Mutter betreibt ihn heute mit einem Hofladen. Früher waren es 60 Hektar gepachtetes Land in Schleswig-Holstein in Einzellage. Abgeschieden war das in der Tat. Meine Eltern kamen gar nicht aus dem grünen Milieu, sie waren aber von der ökologischen Landwirtschaft überzeugt. Mein Vater hat immer gesagt: „Jeder Hof muss sich auf etwas spezialisieren, um zu überleben. Unsere Spezialisierung ist die Vielfalt.“ Wir hatten schlechte Böden zu bewirtschaften, inmitten vieler Kiesgruben. Manche Flächen waren sogar zum Aufforsten zu schlecht. Die Direktvermarktung sehr unterschiedlicher Sonderkulturen war unser Überlebenskonzept. Erdbeeren, Geflügel, Freilandschweine und ein paar Rinder auf der Weide. Inklusive eigenem Futteranbau. Das Ganze stand ständig in einem wirtschaftlichen Überlebenskampf. Ich bin groß geworden mit viel Arbeit, aber auch vielen Einblicken in die landwirtschaftlichen Zusammenhänge.

Kursbuch: Als Kind oder Jugendliche schaut man eher auf die Idylle der Umgebung, oder?

Eva von Redecker: Man findet es ja erst mal normal. Um es idyllisch zu finden, fehlt der Kontrast. Und vielleicht auch ein wenig die Muße. Aber klar, als Grundschulkind habe ich den ganzen Tag draußen gespielt. Und dass man bei vielen Tätigkeiten, im Stall und Verkauf, früh mithelfen kann, bedeutet auch, dass sich einem deren Sinn und sogar der Gesamtzusammenhang erschließt. Zumal bei den gemeinsamen Mahlzeiten alles Betriebsrelevante besprochen wurde.

Kursbuch: Dennoch war es eine vertraute ökologische Umwelt. Heute beschäftigen Sie sich sehr stark mit dem Verlust dieser Umwelt. Der australische Naturphilosoph Glen Albrecht hat dafür den Begriff der „Solastalgie“ geprägt. Übersetzt bedeutet er: Leiden an der Trostlosigkeit. Die Welt, die Natur, wie wir sie kennen, stirbt. Daran verzweifeln wir. Andererseits steigen die Flugzahlen, werden noch mehr Böden versiegelt, wird noch mehr Müll produziert. Überbordendes Wachstum. Die Freiheit an Mobilität und Verschwendung steigt drastisch. Alle wollen an die Wohlstandstöpfe, um mehr Freiheit zu erlangen. Die Gleichzeitigkeit von Verzweiflung und Trauer sowie Entfesselung und Egoismus hypnotisiert uns. Wir kommen nicht mehr zur Lösung in einer Zeit, in der jede Lösung schon wieder das nächste Problem bedeuten kann.

Eva von Redecker: Ihre Frage spiegelt vielleicht schon zu sehr eine Beobachterposition, aus der heraus diese Gleichzeitigkeit überhaupt nur auszumachen ist. Trauer und Egoismus sind beides Begriffe, die mir zu unmaterialistisch sind. Sie sind Anschauungskategorien, die vor den Wirkkräften der ökologischen Krise haltmachen. Erst mal zur Trauer: Nicht jede Veränderung ist ein Verlust oder eine Beraubung. Worum es im Klimawandel geht, ist ein Wegbrechen der Regenerationsfähigkeit der Lebensgrundlagen, was wiederum eine bestimmte Form von Reparatur unmöglich macht. Eher als zu trauern, frage ich mich, welche Art der Bearbeitung diese Böden konkret reparieren könnte. Wir stehen mit der Natur in einem Stoffwechsel, der stark von Ausbeutung geprägt ist. Die Natur selbst ist aber ein Stoffwechsel, der regenerativ operiert. Das Glück, in einem rationalen, sinnvollen Stoffwechsel zu stehen, ist eine größere Verheißung als die gewahrte Intaktheit der Natur, die man irgendwie weiter „von außen“ betrachtet. Der Egoismus wiederum betont die subjektive, individuelle Seite zu sehr. Er wäre gar nicht das Problem, wenn ihm nicht sehr spezifische Objektbezüge und Befriedigungen permanent angedient würden. Es ist auf eine Art spektakulär, welcher Grad an Dauerwerbung und Ressentimentschürung inzwischen nötig ist, um überhaupt noch die Absatzmärkte zu schaffen, die das letzte bisschen Wirtschaftswachstum brauchen. Die Habsucht des Einzelnen ist hier kein großer Faktor. Die Entfesselung von Produktivität und Mobilität unter dem Profitmotiv gibt die Struktur vor. Andreas Folkers schreibt über die fossile Moderne, dass ihre Dynamik durch Beschleunigung stabilisiert wird, die Überhitzung produziert. Wenn der Antrieb fossil ist, erzeugt er Treibhausgase und Erderwärmung. Diese Logik selbst als einengend zu verstehen ist für mich wichtig.

Kursbuch: Im publizistischen Zeitgespräch werden weiter sehr einfache Dichotomien erzeugt, um Orientierung zu schaffen. In der Umweltdebatte finden wir sie seit den 1970er-Jahren. Der Sozialphilosoph Erich Fromm sprach bereits vor über 40 Jahren von der Schicksalsfrage: Haben oder Sein. Ein Aufruf, sich konkret zu entscheiden oder entscheiden zu müssen. Umgedeutet würde es bedeuten: Jede Wachstumsidee führt irgendwann an die Grenze der Belastbarkeit. Warum können wir uns von diesem Entweder-oder so schwer lösen?

Eva von Redecker: Ich glaube nicht, dass für jeden Gegenstandsbereich das Sowohl-als-auch die aufgeklärteste Perspektive ist. Wir müssen uns aus dem Rahmen lösen, der diese Alternativen als einzige Möglichkeiten diktiert. Fromm steht in einer langen Tradition der Entfremdungskritik. Schon der junge Marx kritisierte das „Haben“ auf eine Weise, die gar nicht asketisch, sondern im Gegenteil luststeigernd war. In der gegenwärtigen Debatte ist mir daher wichtig, sich nicht in den liberalen Korridor schieben zu lassen, der dem Furor der totalen Entfesselung nur den bürgerlichen Rücksichtnahmediskurs entgegenzusetzen weiß. Wir sollten eine Zukunft der Fülle jenseits dieses verrückten, destruktiven Ressourcenverbrauchs anstreben.

Peter Felixberger, Montagsblock /277

10. Juni 2024

Literaturhinweis: Eva von Redecker: Bleibefreiheit.