Wer sich immer nur selbstverwirklichen will, hat keine Zeit für Solidarität! So lautet der Auftaktsatz heute. Und tatsächlich möchte ich ein wenig darauf herumkauen. Der Mensch kommt ja als unfertiges Menschlein auf die Welt. Und schon ist er mittendrin im Selbstverwirklicherlabor mit komplizierter Versuchsanordnung. Aufrechter Gang, bis Drei zählen, weg von den Windeln. Ziemlich anspruchsvoll, aber nicht aussichtslos. Hinzu kommt schnell der Anspruch, im Größerwerden ein Selbst zu verwirklichen, das noch im Dunkeln des Inneren liegt. Kierkegaard ruft von der Seitenlinie rein: „Der Mensch ist umso mehr selbst, je mehr er Freiheit und Selbsterkenntnis verwirklichen kann.“ Das delphische Orakel lassen wir im Rückspiegel links liegen und steuern weiter auf der Lebensautobahn.
Nächste Ausfahrt: Nietzsche. „Werde, der du bist!“ Der Glücksruf der Moderne. Popsänger Lucio Dalla trällerte kontraphilosophisch: „Ich gehöre mir selbst.“ Jeder will seine Individualität frei ausleben. Die Entdeckung der Feudalbourgeoisie. Doch die Glückssträhne reißt jäh, da der polnische Philosoph Leszek Kolakowski schon längst alles Getue in Frage stellt: „Der Mensch kann sich selbst vielfältig verwirklichen – einer hat das Potenzial, Franz von Assisi zu werden, ein anderer hat das Potenzial, Hitler zu werden.“ Und von Ödipus wissen wir ja, was einem passieren kann, wenn er sein wahres Ich begreift.
Der moderne Europäer erkennt gleichwohl, dass mehr als ein Glückskind in ihm und ihr schlummert, bisweilen ist es sogar ein schlafender Dämon. Die Abgründe der menschlichen Seele. Alleingelassen mit sich selbst. Der Mensch ist aber nicht zur Einsamkeit geboren, sondern braucht emotionale Nähe. Den Übersprung auf den nächsten, zu den anderen Mitmenschen. Die Existenzphilosophen wollen Trost spenden. Karl Jaspers schreibt: „Wo Menschen wie Staub durcheinandergewirbelt werden, ist Wirklichkeit mit Gewissheit dort, wo Freunde echte Freunde sind in der faktischen Kommunikation ihres Offenbarwerdens und der Solidarität persönlicher Treue.“ Das Selbstsein, sich mit anderen zu verbinden. „In der Verbundenheit eigenständiger Menschen.“
Langsam kommen wir dem tieferen Sinn des „Wer sich nur immer selbstverwirklichen will, hat keine Zeit für Solidarität?“ auf die Spur. Die Suche nach dem Selbst wird gekoppelt mit der Andersheit der anderen. Ulrich Beck winkt von der Wolke. Dazu sollte man aber seine fünf Sinne beinander haben. Karl Marx sieht in ihnen sowieso die Urkraft der ganzen Weltgeschichte. „Die gewordne Gesellschaft producirt den Menschen in diesem ganzen Reichthum seines Wesens, den reichen all und tiefsinnigen Menschen als ihre stete Wirklichkeit.“ Im Gegensatz zur tauben Nuss im steten Selbstverwirklichen durch solitäre Selbstvermehrung von Grund und Kapital. Schnell noch den Liberalsten der Liberalen in den Zeugenstand. Ralf Dahrendorf bezeichnet gar „die volle Entfaltung seiner fünf Sinne als Entwicklung seiner Naturanlagen den hypergerechten Zustand am Ende der Geschichte“.
Die fünf Sinne als Kupplung zwischen Selbstverwirklichung und Solidarität. Feierabendpsychologen und Selbstüberhöhungscoaches sprechen hier vom gesunden Menschenverstand. Welcher aber nichts mehr im Dunkeln des Inneren zurücklassen kann. Alles soll gesunden, erblühen, was nicht auf Drei auf dem Baum der Aufklärung ist. Der Mensch wird vollkommener. In einer vollendeteren Gesellschaft. Politisch-soziale Brüderlichkeit inklusive, erfunden in der Französischen Revolution, in der Louis-Antoine de Saint-Just bereits die Saat des Untergangs mit den Worten legt: „Ich verachte den Staub, aus dem ich zusammengesetzt bin und der zu euch spricht.“ Ein neuer Baum ist gepflanzt, an dem sich sägen lässt. Holzfäller gesucht!
Zurück zum Individuum. Wie sagt Nora im gleichnamigen Stück von Henrik Ibsen so treffend: „Ich muss selbst über die Dinge nachdenken und mir darüber klar zu werden suchen.“ Oder wie es der weithin noch unbekannte Wahrsager Uwe Aufleger heute beim Mittagessen ausgedrückt hat: „Wer sich an einen Baum festkettet, kommt nicht weit.“
Peter Felixberger, Montagsblock /274
20. Mai 2024