Montagsblock /272

Manchmal bilde ich mir ein, dass ich ein ganz besonderes Verhältnis zur Natur habe. Obwohl ich immer in großen Städten gelebt habe. Und obwohl ich es als Kind meistens als Zumutung empfunden habe, wenn meine Eltern der Meinung waren, ich solle mehr Zeit draußen verbringen. Einfach deshalb, weil es mir während meines Physikstudiums vergönnt war, viele der fundamentalen Eigenschaften der Welt da draußen selbst zu messen.

Ich erinnere mich noch daran, wie wir im Experimentalpraktikum die Lichtgeschwindigkeit bestimmt habe, und wie unglaublich es war, als dabei tatsächlich der Wert herauskam (innerhalb der sorgfältigen Fehlergrenzen zumindest), der in jedem Physikbuch steht. Oder wie wir nachgeprüft haben, dass man mit Licht tatsächlich Elektronen aus Materialien herauslösen kann, sofern das Licht ihnen genügend Energie für die Flucht aus der Festkörperbindung liefert. Oder wie wir die magnetischen Eigenschaften von Materialien ausgemessen und erklärt haben. Experimentelle Naturwissenschaft eben. Grundlegendes Wissen über die Natur, auf das man sich verlassen kann, weil man es jederzeit durch abermalige Messung bestätigen kann (sofern man sich nicht ganz blöd anstellt, was auch manchmal vorkam).

Tatsächlich habe ich mir allerdings nie die Frage gestellt, warum wir alle davon ausgehen, dass die Messungen im Labor Ergebnisse liefern, die genauso auch draußen außerhalb der experimentellen Aufbauten gültig sind – was offensichtlich die Voraussetzung dafür ist, aus dem Experimentalpraktikum einen umfassenderen Nutzen für den Umgang mit der Natur ziehen zu dürfen. Man tut das einfach, obwohl die Bedingungen im Labor alles andere als natürlich sind: Man schirmt Störfelder ab, stellt Strahlengänge und Materialproben her, die es so in der Natur niemals geben würde, vereinfacht und idealisiert an allen Ecken und Enden. Warum ist man sich so sicher, dass man dabei „die Natur“ nicht im Menschgemachten verliert?

Auf diese Frage stieß ich erst – was vielleicht keine Überraschung ist – im Umfeld der Wissenschaftsphilosophie, und dort wiederum über einen thematischen Umweg. Experimente sind nämlich nicht die einzigen wichtigen Erkenntnisquellen der modernen Physik. Modelle, und insbesondere Computermodelle und Simulationen, sind die andere. Insbesondere in der Astrophysik, wo die meisten der interessierenden Phänomene nicht experimentell untersucht werden können, spielen Simulationen eine zentrale Rolle. Und bei besonders großen, umfassenden Simulationen kommt es nicht selten vor, dass Forscher von ihnen so sprechen, als hätten die Computermodelle ihnen ermöglicht, den Kosmos in ein Labor zu holen.

„Wir haben ein Experiment des frühen Universums untersucht“ kann es dann heißen. Oder: „Wir haben das Experiment mit anderen Anfangsbedingungen wiederholt“. Soll heißen: Wir haben die Simulation noch einmal mit anderen Anfangsbedingungen laufen lassen. Bei mir hat sich früher bei solchen Formulierungen oft Unbehagen eingestellt. Denn Computersimulationen können uns schließlich nicht den gleichen Grad epistemischer Sicherheit liefern wie Laborexperimente. Kann man im Computer nicht im Prinzip alles simulieren? Die reale Natur genau wie viele andere Versionen möglicher Welten? Mit der Natur, die unsere ist, sind wir dagegen nur im Labor in echtem Kontakt. Experimente sind Simulationen daher erkenntnistheoretisch immer vorgelagert. Und sicherlich sind sie beide in Bezug auf ihren Informationsgehalt nicht äquivalent. Oder?

Wenn man sich Laborexperimente unter dem Aspekt der Unnatürlichkeit ansieht, ist diese Frage schwieriger zu beantworten, als man auf den ersten Blick denken würde. Sowohl im Labor als auch im Computer werden die Dinge vereinfacht, angenähert und idealisiert. Der Frage, warum Laborergebnisse auch in der Natur Gültigkeit besitzen, hat einige Philosophen beschäftigt – (wie so oft) letztendlich mehr als die Wissenschaftler selbst. Die sind zufrieden, wenn sich in der Praxis aus dem Gemessenen keine Widersprüche ergeben, sofern man erfolgreich Geschehnisse in der Natur erklären und voraussagen kann. Und das kann ich als Astrophysikerin zumindest bestätigten: Was ich damals im Labor gemessen habe, konnte ich auch beim Versuch, das Universum zu verstehen, ohne Einschränkung anwenden. Ohne Experimente, nur beobachtend mit Teleskopen. Auf der Sonne zeigen sich die gleichen Spektrallinien in erhitzten Gasen wie über dem irdischen Bunsenbrenner. Atome da draußen im interstellaren Medium funktionieren so wie die Atome im Labor.

Aber wie sieht es denn nun mit den Simulationen aus? Sind sie doch so etwas wie Experimente, nur im Computer statt im Labor? Für den nächsten Kursbuch-Band, der sich gerade in der finalen Phase der Fertigstellung befindet, haben wir eine meiner Lieblingsphilosophinnen diese Frage beantworten lassen. Wendy Parker, Philosophieprofessor an der Virginia Tech, hat großartige Aufsätze für das Verständnis von Simulationen geschrieben. Ihr Schwerpunkt liegt meistens auf Klimamodellen, was auch biographisch motiviert ist, denn mit diesen Modellen hat sie selbst als Meteorologiestudentin vor ihrem Wechsel in die Philosophie gearbeitet. Der Fokus ist aber auch inhaltlich motiviert, denn Klimamodelle sind aufgrund ihrer politischen Relevanz in besonderem Maße verpflichtet, epistemische Zuverlässigkeit zu garantieren. Anders gesagt: Wir sollten uns darauf verlassen können, dass wir daraus etwas über die reale Natur, ihr Wechselspiel mit uns und ihre Zukunft lernen können.

Wer wissen will, wie sie die Frage beantwortet, muss leider noch ein paar Wochen bis zum Erscheinungstermin des nächsten Kursbuchs warten. Aber angesichts des herrschenden Frühlingswetters fällt es ja nicht schwer, die Wartezeit zu überbrücken: Zum Beispiel, indem man sich endlich mal wieder raus in die Natur begibt, um dort darüber zu philosophieren, was wir über die Natur wirklich und aus welchen Quellen wissen (denn heute weiß ich: Meine Eltern hatten natürlich Recht, dass man das ab und zu mal tun sollte).

Sibylle Anderl, Montagsblock /272

06. Mai 2024