In Zeiten ständigen Gesehenwerdenwollens in der TikInstaXLinkedBlinki-Welt ist es bisweilen hilfreich, an Arthur Schopenhauer zu erinnern. Der ewige Pessimist hatte früh in seinem Leben erkannt, dass zur vollkommenen Sichtbarwerdung der Menschen immer ein Stückchen fehlen würde. Der Grund: An kalten Wintertagen rücken die Stachelschweine eng zusammen, um sich zu wärmen und vor dem Erfrieren zu schützen. Doch die gegenseitigen Stacheln gehen ihnen bald auf die Nerven. Um jetzt zwischen beiden Leiden die richtige Balance zu finden, müssen sie den richtigen Abstand voneinander einnehmen. Erfrieren oder gepiekst werden, das ist hier die Frage. Schopenhauers Conclusio: „So treibt das Bedürfniß der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihrer vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler wegen stoßen sie wieder voneinander ab.“
Die mittlere Entfernung zwischen Abstoßung und Anziehung zu finden, bleibt auch eine der großen Herausforderungen im digitalen Zeitalter. Distanz und Nähe in Einklang bringen. Nur in dieser kleinen Überschneidungszone findet Selbsterkenntnis statt. Oder wie der englische Aufklärer Alexander Pope über den Menschen schrieb: „Ein Mittelding ist dieses Wesen von Natur, von düstrer Weisheit und von roher Größe nur.“ Wer sich nur selbst sieht oder die Mitmenschen blendet, wird diese Belanglosigkeitsbearbeitung nicht ertragen.
Back in the TikInstaXLinkedBlinki-Welt. Dort hat man von Ernst Bloch wahrscheinlich noch nicht viel gehört. Der in seiner „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ indes die menschliche Kränkung auf einen bedeutenden Dreiklang bringt: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Also werden wir erst.“ Da isser wieder: der unvollkommene Mensch, der nach Selbstverwirklichung und Sozialität strebt. Nur blöd, dass die anderen das auch alle tun. Back in the Stachelschwein-Welt.
Bitte einsteigen ins Philosophiekarussel. Denn Kierkegaard koppelt die Selbstverwirklichung mit der menschlichen Selbstentdeckung. „Der Mensch ist umso mehr selbst, je mehr er Freiheit und Selbsterkenntnis verwirklichen kann.“ Und schon springt Nietzsche auf die Bühne: „Werde, der du bist!“ Der Pinball Wizard der Moderne ist geboren. Alle auf dem Weg zum eigenen Ich, die Individualität frei ausleben. Warnrufe? Fehlanzeige. Selbst auf Ödipus hört keiner mehr und sich die Augen ausstechen, ist keineswegs lebensbejahend und belastet heutzutage nur das Gesundheitssystem.
Ich, Ich, Ich! Wo bleiben da Solidarität, soziale Geborgenheit? Aristoteles glaubt an das zoon politikon, ein soziales Wesen, das auf den Mitmenschen angewiesen ist. Solidarität ist der Ursprung jeder Gemeinschaft. Ab in den schnellsten Expresszug der Sozialgeschichte. Pestalozzi spricht von der „Bildung von Gemeingeist“ kurz, bevor die industrielle Revolution sich Bahn bricht. Und Karl Marx titelt etwas später, dass individuelle Selbstverwirklichung sowieso erst durch kollektive Solidarität möglich ist. Hundert Jahre später wird Karl Jaspers vom „Selbstsein, das sich mit den anderen verbindet“ schreiben. Bertolt Brecht hegt wiederum als einer der Ersten in „Der gute Mensch von Sezuan“ Zweifel daran. „Gut zu sein und doch zu leben, zerriss mich wie ein Blitz in zwei Hälften.“ Und Andrè Glucksmann nennt uns schließlich menschliche Tierwesen, gewalttätig und roh. Kriege? No way out!
In der digitalen Abgeschiedenheit der TikInstaXLinkedBlinki-Welt dominiert eher der Schmierfilm der Ich-Bezogenheit und des Selbstverwirklichungsrausches. Den Zauberberg des sozialen Miteinanders könnte man etwa ganz altmodisch bei Thomas Mann nachlesen. Doch Jugendliche ziehen sich (wie in Japan) lieber auf Jahre ins Kinderzimmer zurück. Digital vereinsamen, einsam verdigitalisieren. Sie springen auf keinen Selbstentfaltungszug mehr auf.
Der Weg ins Soziale wird länger. Schnell noch eine Städtereise buchen, flink konsumieren oder sich zur Mumie schminken. Möglichst alles gleichzeitig.
Einzig die sozialen Stacheln pieksen ohne Unterlass.
Montagsblock 271. Repeat!
Peter Felixberger, Montagsblock /271
29. April 2024