Vor vielen Jahren traf ich in Paris am Flughafen eine Frau, die etwa so alt war wie ich. Wir wollten beide abends nach Berlin fliegen und warteten auf unseren Flug, der sich immer mehr verspätete. Irgendwann war die Fluganzeige verschwunden und wir versuchten gemeinsam herauszufinden, was das im Allgemeinen zu bedeuten hatte und im Speziellen für uns. Der allgemeine Teil war schnell zu klären: Das Flugzeug hätte nicht mehr innerhalb des erlaubten Flugzeitkorridors in Berlin landen können, es gingen daher keine Flüge mehr an unseren Zielort. Der spezielle Teil war etwas komplizierter. In Paris war gerade Fashion Week, und es gab keine freien Hotelbetten mehr. Dass ich im allgemeinen Chaos gerade an diese junge Frau geraten war, erwies sich für mich daraufhin als großes Glück. Denn ihre Schwester wohnte in Paris, und sie bot mir an, dass ich für die Nacht mit zu ihr kommen könne.
Natürlich war ich überaus dankbar über diese Rettung und hätte mich gefreut, wenn aus dieser Begegnung im Folgenden ein dauerhafter Kontakt entstanden wäre. Aber nach einigen wenigen späteren Treffen in Berlin wurden meine Nachrichten nicht mehr beantwortet. Und außer der Frage, was wohl der Grund für den Kontaktabbruch gewesen sein könnte, blieb nichts mehr von dieser Begegnung bestehen.
Ich musste in diesen Tage wieder einige Male daran denken. Denn unerwartet erlebe ich eine mögliche Erklärung. Nachdem ich zum Jahresanfang meinen Arbeitgeber gewechselt habe, musste ich auch meine Handynummer und E-Mail-Adresse abgeben. Nicht nur gingen beim hektischen Datentransfer zum Jahresende aus mir nicht einsichtigen Gründen viele Kontaktdaten verloren. Auch die Information des Wechsels selbst erreichte offenbar bei Weitem nicht alle. Die eingerichtete Abwesenheitsmitteilung funktioniert nicht mehr. Immer wieder höre ich, dass mir Nachrichten geschickt worden seien, die nun irgendwo im digitalen Nichts umhergeistern.
Zunächst versuchte ich mir noch einzureden, dass in solch einem partiellen Wechsel der digitalen Identität auch eine Chance liegen könnte. Ein Bekannter bestärkte mich darin, als er neulich feststellte, er müsse auch mal wieder seine Handynummer wechseln, er werde von zu vielen Menschen angerufen. Noch aber gelingt mir diese uneingeschränkt positive Sichtweise nicht. Was, wenn nun alle erfolglos mit mir Kommunizierenden denken, ich antwortete absichtlich nicht?
Medienpsychologen der Julius-Maximilians-Universität Würzburg haben 2016 ein Experiment gemacht, um den emotionalen Wert von Smartphone-Daten besser zu verstehen. Menschen wurde einerseits Geld für das Löschen bestimmter Daten geboten. Andererseits wurde ein Datenverlust vorgetäuscht und die emotionale Reaktion aufgezeichnet. Der erste Teil des Experiments bestätigte Naheliegendes: Fotos werden als am wertvollsten eingeschätzt, Apps sind am ehesten verzichtbar. Der zweite Teil des Experiments war nicht sonderlich erfolgreich, weil die Probanden offenbar nicht wirklich davon überzeugt werden konnten, dass ihre Daten verloren gegangen waren. Auch wenn ihr Experiment daher keine signifikanten Ergebnisse liefern konnte, betonen die Psychologen den großen emotionalen Wert der Daten und das Problem, dass Datenverlust gemeinhin als unwahrscheinlich angesehen wird. Erst im Angesicht des echten Verlustes aber werde den Nutzern der wahre Wert ihrer Daten deutlich. Auch ohne empirische Fundierung mag man dem sofort und ohne Einschränkungen zustimmen.
Und tatsächlich wäre das mit viel gutem Willen dann auch ein positiver Aspekt, den ich in meinem Problem der abgebrochenen Kontakte sehen könnte: Wenn mir in diesen Tagen Menschen einfallen, von denen ich lange nichts gehört habe, dann versuche ich mich möglichst bei ihnen zu melden. Darauf, dass sie sich melden, kann ich mich ja nun nicht mehr uneingeschränkt verlassen. Das Risiko, als Kontaktabbrecherin zu erscheinen, will ich nicht eingehen. Der Wert der Kontaktdaten, da haben die Psychologen recht, zeigt sich dann in besonderer Deutlichkeit, wenn man sie nicht mehr voraussetzen kann. Und dieses Resultat ist etwas, was auch ohne Handy- und E-Mail-Wechsel so etwas wie ein guter Vorsatz für das neue Jahr hätte sein können.
Sibylle Anderl, Montagsblock /260
12. Februar 2024