Am 4. März erscheint das Kursbuch „Was wäre, wenn“. Hier ein Auszug aus meiner FLXX-Kolumne zum Anwärmen. Der gesamte Essay hat den Titel „Wanted: Acht unbekannte Typen in freier Wildbahn.“
Mehrverorter
Eine Person, die nie aufgibt, hinter einer Begründung noch weitere Einfüllstutzen zu suchen. Logik sucht Plätze, die bisher unbekannt waren. Beispiel: Ich fahre mit jemandem Schlitten. Im eigentlichen Sinne bedeutet es, dass wir auf einer Rodelbahn mit einer anderen Person den Berg hinunterfahren. Im übertragenen Sinne meint es, dass ich eine andere Person ziemlich rüde zur Rechenschaft ziehe. Im politischen Feld hat der Mehrverorter in den letzten Jahren eine dritte Karriere gemacht. Der Politiker zieht seine Meinung durch unterschiedliche Semantikarenen. Nehmen wir Friedrich Merz. Steht er auf der Bühne eines bayerischen Bierzeltes, desavouiert er städtische Eliten. Sitzt er mit einem Kursbuch-Herausgeber zur Primetime in der ARD, beklatscht er die Demonstrationspower in den Großstädten gegen die AfD. Ein Politiker seines Schlages ist ständig bereit, irgendein Argument genau dort zu platzieren, wo es widerspruchslos bleibt. Flüchtlingskinder sind einmal „kleine Paschas“, ein andermal sind sie beim Fachkräftemangel unsere Zukunft. Der Mehrverorter dreht sein Fähnchen nach dem Wind, wie es der Volksmund bezeichnet. Von den Anhängern wird das als geschickte Strategie bewundert, die politischen Gegner hingegen sehen darin eine perfide Selbstüberhöhung. Problematisch wird es für den Mehrverorter, wenn er entlarvt werden könnte. Dann weicht er lächelnd aus und spricht von „Zuspitzen dürfen“ oder „klare Kante zeigen“. Was wiederum das Publikum anstachelt, die jetzt weiter ihrer jeweiligen Verurteilung oder Zustimmung frönen kann. Im Bayerischen, wo mit Markus Söder eine Art Plumpaquatsch des Mehrverortens lebt, spricht man von einem Hund, der einer ist. Dieser Hund ist die höchste Stufe, die ein Mehrverorter erreichen kann. Unterdessen wird der Speichelreflex der Ablehnung bei den Gegnern hier am stärksten angeregt. Ein Hund, ein miserabliger, ist der Söder eben auch. Die Medien mögen den Mehrverorter, weil sie ihm einfache Fragen stellen können. Das wiederum mag auch der Zuschauer, Zuhörer oder Leser. Sie klopfen sich auf die Schenkel, haben es schon immer gewusst oder könnten kotzen. So hat der Mehrverorter am Ende eine stabilisierende Wirkung auf die Meinungsverteilung. Jeder fühlt sich dort bestätigt oder faustballend, wo er sich eingerichtet hat. In dieser Echokammer braucht der Mehrverorter eigentlich nur sagen, was von ihm erwartet wird.
Magensager
Eine Person, welche die souveräne bis stark gereizte Einschätzung einer Alltagssituation vom Magensäuregehalt abhängig macht. Dabei kommt es zu einer ungeahnten Stärkung der Meinungsprofilierung. Beispiel: Dem Magensager kommt es hoch oder es stößt ihm in leicht abgemilderter Form auf. Damit ist gemeint, dass eine Art von Ausbruch bevorstehen kann. Vor allem das Saueraufstoßen ist weit verbreitet. Nehmen wir an, jemand parkt vor Ihnen ein, obwohl Sie schon den Blinker gesetzt hatten. Der Magensager kann auf drei Arten reagieren. Erstens souverän, er atmet tief durch und lässt die überschüssige Magensäure im Depot. Zweitens offensiv, er versucht, vor dem anderen in die Parklücke zu kommen, was die Bauchspeicheldrüse über Gebühr anregen könnte. Und drittens aggressiv, er steigt aus und versucht, die Anleitung zum Unglücklichsein von Paul Watzlawick nachzuspielen. Er geht dann zum Fahrerfenster des Rivalen, fordert diesen zum Herunterkurbeln auf und sagt den finalen Magensagersatz: „Da kommt mir jetzt aber alles hoch.“ An dieser Stelle zeigt sich blitzschnell, zu welcher Spezies der andere Magensager gehören könnte. Falls auch aggressiv, kann es zum beiderseitigen Aufstoßen bis hin zum gegenseitigen Anstoßen bis Umstoßen kommen. Wichtig zu wissen: Die Reaktionsmuster sind von großer Hartnäckigkeit, weswegen man dem Magensager auch eine gewisse Unbelehrbarkeit nachsagt. In der Politik ist der Magensager heute nahezu ausgestorben. Der fast letzte seines Standes war der Franz-Josef. Bei ihm stieg die Magensäure bisweilen sogar bis ins Gesicht, weswegen er in Kombination mit hellem Bier oft die Röte eines portugiesischen Sonnenuntergangs am Atlantik erreichte. Eine besondere Spezies in der Zivilgesellschaft ist schließlich der morgendliche Zeitungsleser, der bei der Lektüre bereits in der Früh ein Depot an Magensäure anzulegen in der Lage ist, die er später bei Bedarf abrufen kann. Besonders anregend sind hier Themen wie Deutsche Bahn-Streik, Klimakleber, Schulunterrichtsausfall oder Agrardieselkürzungen. Der Magensager ist in dieser Phänotypausprägung ein geschickter Vorsorger, weshalb er, wenn er die Magensäure zu dosieren weiß, einigermaßen ungerührt durch den Tag kommt. Wenn er ein absoluter Meister seines Fachs ist, kann er die Magensäurezufuhr sogar meditativ regulieren. Er steigt dann aus dem Auto, nimmt die Kriegerstellung aus dem Yoga ein, spürt die Spannung und lässt die Schultern weit weg von den Ohren einrasten. Die Magensäure gehört ihm jetzt ganz allein.
Lesen Sie weiter in der FLXX-Kolumne im Kursbuch 217. Unter anderem Lernbesinger, Fastbenehmer, Kannprophet, Nagelverschlager, Überunser und Schattenschneider. Weitere Folgen in Planung: Kann-o-mat, Akkuratbalger, Mannsbrecher, Ichversenker, Chatistiker, Vielverpflanzer.
Peter Felixberger, Montagsblock /257
22. Januar 2024