In der Aufmerksamkeitsökonomie gegenwärtiger öffentlicher Debatten ist eine Meldung der letzten Woche zwar nicht untergegangen, aber wurde doch unter ferner liefen verhandelt, nämlich die Studie zu sexuellem Missbrauch in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Ergebnisse ähneln denen, die seit einem Jahrzehnt für die katholische Kirche diskutiert werden. Hier hat man die Dinge vor allem auf die rigide Sexualmoral, den Klerikalismus und nicht zuletzt auf den Zölibat bezogen, zumindest waren das stets die öffentlichkeitswirksamsten Themen zur Erklärung des Phänomens.
Die Ergebnisse der jetzigen Studie über die evangelische Kirche als Entlastung für die katholische Kirche zu lesen, oder besser: als Entlastung der katholischen Kirche davon, die eigenen schrecklichen Verfehlungen nicht auf das „Katholische“ daran zu reduzieren, wäre fehl am Platze. Würde man in diesen Kategorien denken, wäre es wohl zutreffender, die evangelische Kirche als erheblich „katholischer“ bewerten zu müssen, als sie es selbst tut. Wie die Studie des Forschungsverbundes „ForuM“ um den Hannoveraner Erziehungswissenschaftler Martin Wazlawik zeigt, begründet gerade die Abgrenzung gegenüber dem „Katholischen“ in vielen Selbstbeschreibungen evangelischer Kirchenfunktinäre ein Selbstbild jener, die die Überhöhung katholischer Würdenträger mit einer komplementären Überhöhung beantworten. Das „‘Besser-Sein‘ im Vergleich zu anderen Glaubensrichtungen“, so heißt es in der Studie, erzeuge einen spezifisch „evangelischen Modus der Selbstüberhöhung“ (S. 807), der ebenso wie eine katholische Perspektive vor allem in der Abgrenzung gegen eine feindliche Umwelt funktioniert.
Das ist nicht nur eine Charakterisierung der beiden Kirchen, sondern vor allem der Effekt einer Unterscheidung. Stabile Unterscheidungen sind vor allem eines: stabil und stabilisierend. Sie sind in der Lage, den eigenen Blick für Irritationen geradezu zu immunisieren – und die Immunisierungsstrategien der beiden Seiten der Unterscheidung sind tatsächlich stabil: im einen Fall die Beharrungskräfte interner Solidarität gegen eine feindliche Umwelt mit gleichzeitiger geradezu eschatologischer Selbstzurechnung von Auserwähltheit, im anderen Fall eine Selbstüberhöhung, die sich daraus speist, dass man sich gegen die Selbstüberhöhung der anderen wendet und sich mit einer Modernitäts-, Pluralitäts- und sogar Demokratiezuschreibung für Selbstzweifel immun macht – selbst wenn man sie wie ein Monstranz vor sich erträgt (hätte man eine). Beide begründen eine bestimmte Form des Klerikalismus.
Sexuelle Übergriffe, sexualisierte Gewalt und Missbrauch kommen überall dort vor, wie extreme Machtverhältnisse Abhängigkeit mit Geschlossenheit und Unsichtbarkeit verbinden – deshalb sind die präferierten Orte dafür auch Familien und Organisationen. Es sind beides Sozialsysteme, deren Funktion geradezu in einer Innen-Außen-Mechanik mit relativ deutlicher Rollenzuweisung und formellen wie informellen Hierarchien kombinieren. Ihre Funktion ist geradezu Exklusivität – im wahrsten Sinne des Wortes. Alles, was nicht zur Familie gehört und kein Mitglied der Organisation ist, wird exkludiert – was nicht prinzipiell zu kritisieren ist, sondern zur Form des Organisatorischen (und Familialen) gehört.
Aber in solchen ökologischen Nischen der Geschlossenheit und der abgestuften Abhängigkeiten gedeiht die Wahrscheinlichkeit von Gewalt. Die moderne Selbstbeschreibung pazifizierter Gesellschaften, wie wir sie etwa aus Norbert Elias‘ Zivilisationstheorie kennen, hält Gewalt und körperbezogene Übergriffigkeit für eine zivilisatorische Ausnahme, zumindest für etwas „anderes“, das noch nicht überwunden scheint oder wenigstens mit den zivilisierenden Mitteln des Rechts, der Aufklärung, der Erziehung und der Moral als überwindbar gilt. All diese Mittel setzen auf Sichtbarkeit, auf Aufklärung. Es stehen dafür allerlei Lichtmetaphern (enlightenment) bis hin zur Transparenz (Durchsichtigkeit) zur Verfügung. Dem stehen sehr moderne Institutionen gegenüber: die kleine Familie mit eigener Wohnung und unsichtbaren Hinterbühnen, die Organisation mit exklusiven Mitgliedschaftsregeln und einer Kombination aus transparentem Organigramm und Unsichtbarem nebeneinander. Dass gerade dort die Gefahr der Gewalterfahrung und das Risiko der Gewalthandlung steigt, darf nicht verwundern – und passt gut in jenen modernen Kontext, der Zonen der Unsichtbarkeit sehr sichtbar in die bestehende Welt einbaut.
Die Missbrauchsskandale der Kirchen müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden. Bei Ihnen kommt neben der strukturellen Gefahr der organisatorischen Kombination aus exkludierenden Räumen und hierarchischen Abhängigkeitsverhältnissen, sogar der Suspendierung von Freizügigkeit und gegenwartsbezogenen Exit-Möglichkeiten die Exklusivität religiöser Absolutheitsansprüche dazu. Diese unterscheiden sich in den katholischen und in den evangelischen Varianten, aber beide sind von einem Klerikalismus geprägt, der die interne Hierarchie der Organisationspositionen mit einer externen Legitimation versieht, die ihrerseits geradezu eschatologisch entzogen erscheint. Im katholischen Raum ist Klerikalismus erst in jüngster Zeit zu einem Schimpfwort geworden – es war vorher eher als eine politische Strategie gegenüber dem säkularen Staat gemeint.* Inzwischen fungiert er eher als Form der Selbstkritik, ganz ohne Zweifel eine Reaktion auf die Aufdeckung des Missbrauchs.
Die evangelische Kirche dagegen versteht sich mit ihrer Lutherschen Idee der „Priesterschaft aller Gläubigen“ ohnehin als antiklerikale Bewegung – und setzt das klerikalistisch um. Vielleicht kann es so noch viel perfider gelingen, Übergriffe nicht nur als Macht und Gewalt zu rahmen, sondern sie auch noch zu symmetrisieren oder zu rechtfertigen – natürlich nicht systematisch und programmatisch, aber pragmatisch. Auch wenn es eine Zurechnungsübertreibung ist: Wie das Katholische sich ja auch rituell und liturgisch eher mit der äußeren Form zufriedengibt, dürfte sie in der Verdeckung von Sichtbarkeit besonders geübt sein; die evangelische Selbstzurechnung als liberalere Alternative zielt dagegen mehr auf das Gewissen und individuelle Entscheidbarkeit und könnte die Dinge eher entsprechend verbrämen.
Ich weiß, das sind Stereotype, und sie werden konkreten Fällen kaum gerecht, aber zumindest verweist die Hannoveraner Studie, deren Datenbasis noch ziemlich begrenzt ist und auf eine hohe Dunkelziffer verweist, auf zweierlei: Es wiederholt sich zum einen hier, was ohnehin bekannt ist: Intransparente Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in Organisationen sowie eine Organisation von Unbeobachtbarkeit machen den Missbrauch von Schutzbefohlenen wahrscheinlicher. Dasselbe gilt auch für Schulen/Internate/Heime, für Universitäten, für Unternehmen und für Sportvereine. Die Mittel dagegen sind bekannt: transparentere Strukturen, 4-, 6-, 8-Augenprinzipien, Melde- und Ombudsstrukturen und Sanktionsmöglichkeiten.
Zum anderen verschärft sich in Kirchen die Lage wegen der exklusiven Rollenzuschreibung, der klerikalen Form der Selbstlegitimation. Das Aufregende der EKD-Studie besteht darin, dass es weniger die konkreten Inhalte sind, weniger die theologischen, konfessionellen oder religiösen Begründungsfiguren und Traditionen, sondern die Form selbst, die Organisationsmitglieder mit exklusiven Legitimationen ausstattet. Die EKD-Studie ist auch für die katholische Kirche von großer Bedeutung: Allein Organisationsstrukturen zu ändern, Texte über Sexualmoral zu modernisieren oder etwas vorsichtiger bei der Rekrutierung von Personal zu sein oder den Zölibat abzuschaffen, wird das Problem nicht grundlegend lösen. Es geht eher um die Frage des Klerikalismus, des Priester-/Pfarramtes, der verklärten Form des geweihten Menschen, der praktisch gesehen auch im evangelischen Raum in dieser Weise entrückt ist. Die zentrale Rolle des evangelischen Pfarrhauses für die bürgerliche Gesellschaft liegt wohl auch in dieser Doppelrolle, die man hier einem pater familias zuschreiben konnte.
Es geht in der ForuM-Studie und auch in den katholischen Pendants nicht nur um verbrecherische Formen des Übergriffs gegenüber Schutzbefohlenen und Schwächeren, es geht vielmehr um die Frage der Modernitätsfähigkeit von Kirchlichkeit überhaupt. Religionssoziologisch kann man durchaus behaupten, dass die historische Funktion von Kirchen im christlichen Raum durchaus auch darin bestand, die prinzipielle Wildheit des Religiösen organisatorisch einzufangen und zu befrieden.** Ob das nach der Aufdeckung der systematischen Missbrauchsskandale noch gilt, ist zumindest eine offene Frage. Es könnte sein, dass die Form des Kirchlichen sich in beiden Konfessionen von einem evolutionären Vorteil in ein Endspiel verwandelt. Vielleicht wird man das nun weniger bedauern als zuvor.
Es zeigt sich jedenfalls auch hier, selbst wenn Missbrauchsfälle womöglich in den Kirchen gar keine höhere Frequenz haben als in anderen Organisationen, dass sie angesichts der moralischen Selbsterhöhung von besonderer Relevanz ist. Es gilt überall: Wer sich selbst moralische Absolution erteilt, ist noch weniger in der Lage, sich verunsichern oder korrigieren zu lassen, als das ohnehin der Fall ist. Sich damit zufriedenzugeben, es nur zu verachten, wäre freilich selbst zu moralisch.
Armin Nassehi, Montagsblock /258
29. Januar 2024
* Vgl. dazu Franz-Xaver Kaufmann: Kritik des Klerikalismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.07.2019.
** Vgl. dazu Armin Nassehi: Die Organisation des Unorganisierbaren. Warum sich Kirche so leicht, religiöse Praxis aber so schwer verändern lässt, in: Isolde Karle (Hg.): Kirchenreform. Interdisziplinäre Perspektiven, Leipzig: Europäische Verlagsanstalt 2009, S. 199-218, hier S. 207.