Von Fernando Pessoa, dem portugiesischen Schriftsteller, Flaneur und Menschenkenner, stammt der Satz: „Wahrheit ist der Irrtum einer Perspektive.“ Pessoa spielte zeitlebens auf den Straßen und in den Cafès Lissabons mit der Vielfalt seiner Sichtachsen und Wahrnehmungen. Verfolgte hier ein aufkommendes Gefühl, verlor dort den Faden einer möglichen Geschichte. Biografisches Versickern ohne Wiederkehr. Quantos sou – wieviele bin ich? Pessoa ließ erfundene Personen, sogenannte Heteronyme, für sich sprechen und schreiben. Insgesamt 25 Menschen. Mit komplexer Biografie und Ausarbeitung.
Im kleinen, feinen Pessoa-Museum im Stadtteil Ourique hat man ein kleines Spiegelkabinett installiert. Wer eintritt, sieht sich gleichzeitig in zahlreichen Perspektiven, von allen Seiten, komplettiert sein eigenes Bild und verliert es gleichzeitig wieder. Es ist wie ein Kommen und Gehen seiner Person. Ich ist ein anderer. Andere literarische Baustelle, Rimbaud meets Pessoa. Die Halbstarken einer Schulklasse kichern nebenan und ahnen noch nichts von ihren Selbstentfaltungslinien im Leben, die irgendwann zur Selbsterforschung führen werden.
Draußen vor dem Museum aufbrausender Wind, Deutschland bereitet sich auf einen Eisregen vor. Ein Klick weiter. Die Demokratie als Motor der Perspektivenvielfalt stottert. Die Rechtsextremen kündigen den Gesellschaftsvertrag auf und pochen auf die Vereinheitlichung im nationalen Korridor. Schon sorgt man sich in bürgerlichen Kreisen: Werden die Rechten sich künftig noch den demokratischen Entscheidungen der Mehrheit unterordnen? Oder führt der anschwellende Bocksgesang der Rechten zur Machtübernahme, zumindest in Ostdeutschland?
Es geht im Kern um die Frage: Werden sich die Rechten der Demokratie unterordnen? Da fällt mir ein Essay des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel ein: Das Problem der globalen Gerechtigkeit. Jeder Mensch, so Nagel, wird ja zufällig in eine Gemeinschaft hineingeboren. Deren Regeln werden ihm/ihr zwangsweise auferlegt. „Es handelt sich nicht einfach um eine freie Assoziation. Ich schlage vor, dass es diese komplexe Tatsache ist, nämlich, dass wir uns sowohl als gemeinsame Autoren des zwangsweise auferlegten Systems verstehen, als auch, dass wir dessen Normen unterworfen sind – dass also von uns erwartet wird, seine Autorität selbst dann zu akzeptieren, wenn eine Gemeinschaftsentscheidung von unseren persönlichen Einstellungen abweicht.“
Hinzu kommt, so Nagel, die individuelle Codierung durch eine Art von Minima Moralia. „Sie lenkt unsere Beziehungen zu allen anderen Menschen der Welt.“ Dafür braucht man keine Institutionen, es wird geregelt über zwischenmenschliche Beziehungsqualität und Humanismus. Welche aber, so Nagel, nicht die Richtschnur politischer Gerechtigkeit sein dürfen. „Das Recht auf Gerechtigkeit ist ein Recht darauf, dass die Gesellschaft, in der man lebt, gerecht regiert wird. Alle hieraus abgeleiteten Ansprüche gegenüber anderen Gesellschaften beziehungsweise ihren Mitgliedern sind im Vergleich mit Ansprüchen gegenüber den eigenen Mitbürgern ausdrücklich sekundär.“
Im Klartext: Jeder ist verpflichtet, innerhalb der Gemeinschaft, in der er lebt, für ein friedliches Miteinander auf Basis von Chancengleichheit und Einflussgleichheit einzutreten. Universelle Gleichheitsforderungen lassen sich in der Praxis nur lokal umsetzen. Denn jeder Bürger ist nur innerhalb seiner Gesellschaft ein Akteur des Managements sozialer Gerechtigkeit. Gleichzeitig handelt er jedoch auch als Mitmensch und Akteur einer Minima Moralia, die er jenseits politischer Institutionen zu verwirklichen trachtet (was auch global anzustreben ist).
Lissabon an einem Januarnachmittag. Vielfalt und unbesorgtes Flanieren im Fremden. Voller Überraschungen. Hineinmigration statt Remigration müsste es heißen. Wir erhöhen im Geiste Pessoas die Zahl der Perspektiven auf den Straßen und in den Cafés, lassen das unendliche Spiel heteronymer Wahrnehmungen, Assoziationen und Erzählungen zu. Im Schutze politischer Gerechtigkeit, Fairness und friedlichem Miteinander darf die Andersheit des anderen erblühen. Das ist die Aufgabe von Politik und Demokratie in präfaschistischen Zeiten. Viele Perspektiven zulassen und damit den Irrtum einer Wahrheit verhindern.
Der Montagsblock empfiehlt heute das „Buch der Unruhe“ von Fernando Pessoa.
Peter Felixberger, Montagsblock /257
22. Januar 2024