Montagsblock /256

Etwas heller ist es geworden am Deich von Oldenburg. Es wurden Bäume gefällt, denn Bäume sind nicht gut für Deiche, die unter Druck stehen. Wenn man genau hinschaut, sieht man auch noch einige Sandsäcke auf den Terrassen der Häuser hinter dem Deich liegen und bunte Fähnchen im Boden, die mittlerweile wohl ihre Relevanz verloren haben. Denn die akute Hochwassernotlage ist vorbei. Wo es vor einer Woche noch um die Frage ging, ob vielleicht eine gezielte Notsprengung notwendig sein könnte, um Wohnsiedlungen zu schützen, wenn es angesichts der anhaltend hohen Pegel doch zum Deichbruch kommen sollte, sind heute schon wieder fröhliche Kohlfahrten unterwegs. Seit zwei Tagen darf man den Fußweg am Fluss Hunte wieder benutzen. Und ich jogge dort meine Deichrunde, die ich schon immer gerne gelaufen bin, wenn ich meine Eltern mit etwas Zeit besucht habe.

Dass es in Oldenburg so viele Deiche gibt, fand ich immer etwas kurios – das heute zu schreiben ist mir angesichts meiner Naivität natürlich etwas unangenehm – weil die Hunte weder ein besonders großer noch ein besonders wild erscheinender Fluss ist und “Deich” nach einer Gefahr klang, die ich mit dem mir bekannten Gewässer nie in Verbindung gebracht habe. Meiner Mutter war es immer wichtig, ein paar Sandsäcke im Haushalt zu haben, und auch das fand ich kurios. Denn mein Elternhaus liegt war in der Nähe zweier Teiche, aber wie das Wasser auch nur in die Nähe dieses Hauses kommen sollte, war mir völlig unklar (die Frage war mir aber zugegebenermaßen auch nicht sonderlich wichtig).

Nun habe ich mich angesichts der besonderen Hochwasserlage der vergangenen Wochen in Niedersachsen zum ersten Mal intensiv darüber informiert, wo in Oldenburg welches Wasser fließt, wo welche Deiche zu finden sind und was passieren würde, wenn Deiche brechen. Ich habe erfahren, dass die Hunte deshalb oberhalb vieler Wohngebiete fließt, weil sie einst umgeleitet und aufgestaut wurde, um zunächst den Hunte-Ems-Kanal und dann den Küstenkanal mit Wasser zu versorgen; ich habe gelernt, dass die Hunte-Wasseracht für die Deiche der oberen Hunte und der I. und II. Oldenburgische Deichband für die Tide-betroffenen Deiche der unteren Hunte zuständig sind; Und ich habe eine grobe Vorstellung davon bekommen, wie komplex das System der Entlastungskanäle und Sperrwerke ist, mit dem die Belastung der Deiche kontrolliert werden kann. Ich habe auch Hochwasserrisikokarten gefunden, auf denen ich sehen konnte, welche Stadtteile im Fall eines extremen Hochwassers wie hoch überflutet wären. Tatsächlich steht mein Elternhaus am Rand eines Überschwemmungsgebietes, im Katastrophenfall gespeist von einem Nebenbächlein der Hunte.

Ich erzähle das alles deshalb, weil mir durch diese Recherche wieder einiges ins Bewusstsein gerufen wurde, was unseren Umgang mit den sich künftig im Zuge des Klimawandels wohl häufenden Extremwetterereignissen betrifft, deren Wahrscheinlichkeit uns so niedrig erscheint, dass wir sie deshalb sehr bequem ignorieren können. Wohl die meisten Menschen (ich zumindest) haben bislang nicht viel Nachdenken in den Umgang mit solchen Ereignissen investieren müssen. Naturgewalten erscheinen uns heute weitgehend gebändigt, die Ingenieure werden schon die entsprechenden Vorkehrungen getroffen haben. Der Klimawandel zeigt solchem Sicherheitsdenken nun die Grenzen auf, denn die Anforderungen an Sicherheit – bei Deichen ist das, dass sie einem Hochwasser trotzen müssen, das auf der Grundlage vergangener Daten statistisch alle 100 Jahre zu erwarten ist – müssten permanent angepasst werden. Das hieße: immer höhere Deiche angesichts immer extremeren Wetters. Auf Dauer ist das nicht praktikabel. Sicherheitsdenken sollte daher von Risikodenken abgelöst werden, das hat auch die EU in Bezug auf den Hochwasserschutz 2007 als Devise ausgegeben.

Aber was heißt das genau? Die theoretische Idee dahinter ist, dass man sich genau mit diesen unwahrscheinlichen Extremereignissen auseinandersetzen sollte und auf dieser Grundlage versucht, im Katastrophenfall den Schaden zu minimieren. In den Niederlanden wird das schon erfolgreich praktiziert. Dort sind die Deiche höher, wo kritischere Infrastruktur geschützt werden muss. Um eine Region so zu gestalten, dass sie mit Extremereignissen umgehen kann, ist aber natürlich viel Aufwand zu betreiben: Jetzt sind nicht mehr vor allem die Deichkonstrukteure und Deichverbände gefragt – also der technische Hochwasserschutz -, sondern die Kommunen, der Naturschutz, die Landwirtschaft, die Raumplanung, der Katastrophenschutz, die Versicherungen, die Betroffen und andere müssen sich gemeinsam mit dem Problem auseinandersetzen. Und wer macht das schon freiwillig bei einem so konfliktgeladenen Thema? Wer verhindert neue Siedlungen in einem potentiellen Überschwemmungsgebiet? Wer vermittelt einer Gemeinde, dass sie vielleicht mit einem weniger hohen Deich leben muss als eine dichter besiedelte Nachbargemeinde?

Für die Politik ist dieses Thema deshalb natürlich überaus unattraktiv, und wenn nicht viel passiert wie jetzt in Niedersachsen, wird die Motivation nicht hoch sein, besondere Vorkehrungen für das nächste Hochwasser zu treffen. An akuteren Problemen mangelt es ja nicht. Dass Motivation aus der Bevölkerung kommt, ist ebenfalls unwahrscheinlich, denn Individuen können mit einem Risikoansatz noch weniger anfangen als Politiker: Es ist ja gut gegangen, warum soll man Geld in Vorsorge investieren? Schließlich gilt auch medial: Sobald die Pegelstände wieder sinken, ist auch das Interesse wieder weg.

Wir haben all das schon in einer Variante bei Corona erlebt. Das Präventionsparadox: Vorsorge zahlt sich nicht aus, weil ihre Notwendigkeit nur dann erkannt wird, wenn sie verpasst wurde. Und auch in der Pandemie haben wir keinen guten Umgang mit diesem Problem gefunden. Man kann nur hoffen, dass Politiker trotzdem weitsichtig genug sind, sich davon nicht nachhaltig beeinflussen zu lassen. Und dass in der Bevölkerung das Bewusstsein wächst, dass wir die Zeit der sorglosen Sicherheit wohl hinter uns gelassen haben — in der es kein Problem war, in einer vom Wasser geprägten Stadt aufzuwachsen, ohne sich jemals weitergehende Gedanken über das Wasser gemacht zu haben. Dass meine Eltern Deichgebühren zahlen, was mir früher ebenfalls nicht gänzlich einleuchtete, finde ich nun immerhin außerordentlich beruhigend. Und vielleicht geht es in der Region Oldenburg ja jetzt einigen anderen Menschen ähnlich.

Sibylle Anderl, Montagsblock /256

15. Januar 2024