Montagsblock /255

Das neue Jahr beginnt turbulent. An diesem Montag soll eine große Protest- und Streikwelle beginnen. Streiks gehören ebenso zur demokratischen Kultur wie Proteste. Und wer sich darüber beklagt, dass es dabei zum Teil um Partikularinteressen geht, hat die Idee des Interesses nicht verstanden. Interessen werden fast immer partikular formuliert: Sie müssen sich gegen jemanden richten, meist gegen andere Interessen. Und Streiks sind nur sinnvoll, wenn man das Interesse einer bestimmten Klientel vertritt. All das sind noch keine Anomalien. Und dass die Demokratie ein Programm ist, das nicht Harmonie und Gemeinschaft bewirtschaftet, sondern Konflikt, unterschiedliche Standpunkte und auch unterschiedliche Partikularinteressen, sollte man nie vergessen, wenn man solche Aktionen verurteilt. Und dass Streiks nerven (zumal Bahnstreiks, deren bloße Drohung mich diese Woche schon vom Bahnfahrer zum Lufthansa-Kunden gemacht hat), ist irgendwie die Geschäftsgrundlage, wie Protest seine Forderungen zumeist simplifizierend und verkürzt und oft geprägt von gruppenbezogener Folkloristik auf den Punkt bringt. Beide Formen sind keine Hauptseminare.

Würde man es dabei belassen, wäre man derzeit freilich naiv. Die Aktionswoche, die an diesem Montag beginnt, ist legitim – und ich will hier nicht diskutieren, ob die Forderungen des Bauernverbandes gerechtfertigt sind oder nicht. Zum Teil sind sie es bestimmt, und die Beurteilung ist selbst nicht frei von Perspektiven. Aber darum geht es nicht. Gegenwärtig scheinen Proteste und scheint sich formierender Widerstand noch eine weitere Codierung zu tragen, die über die Sache selbst hinausgeht. Ganz offensichtlich sehen viele rechte Gruppen, zum Teil militanter Art, eine Chance, die ohnehin angespannte Stimmung für generalisierten Protest zu nutzen. Interessant ist jedenfalls, dass diese Gruppen offensichtlich etwas schaffen, was früheren linken Protestbewegungen niemals gelungen ist, nämlich in die Nähe einer gewissen Massenbasis zu kommen. Die damaligen großsprecherischen Revolutionsformeln sprachen im Namen eines Proletariats, das von ihnen nichts wissen wollte. Heute sind die Grenzen fließender, und auch wenn die vereinzelten Aufrufe zu Generalstreiks wiederum eher Folklore sind, spiegelt dies eine andere Form des Protestes wider.

Das gilt übrigens auch für die Protestformen der „Letzten Generation“. Kaum jemand kann sich gerade von der Gefahr radikalisierter Proteste etwa der Bauern mit großen Treckern und erheblichen Auswirkungen auf großstädtischen Verkehr distanzieren, ohne darauf hinzuweisen, dass die „Letzte Generation“ damit angefangen hat, die politische Protestkultur zu vergiften. Ich bin kein großer Anhänger der Protestformen dieser Gruppe (s. Montagsblock /231), aber zumindest stehen diese nicht im Verdacht, so etwas wie eine Massenbasis zu repräsentieren.

Die größte Sorge muss man sich dieses Jahr wohl um die anstehenden Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern machen, in denen nicht nur eine offen rechtsradikale und faschistoide Partei stärkste Kraft mit Ergebnissen über einer Sperrminorität von einem Drittel der Sitze zu werden droht, sondern auch die derzeit im Bund regierenden Parteien in Umfragen zum Teil um den Einzug in das eine oder andere Parlament fürchten müssen. Das ist in der Tat eine Anomalie – und es gibt den zu erwartenden Protesten eine besondere Note, die nicht mehr nur einen partikularen politischen Streit betreffen, sondern das ermöglichen, wovon die Generation der linken Proteste früherer Jahre nur träumen konnte: eine Generalkritik an der Problemlösungskompetenz politischer Akteure, übrigens weit über die Ampel-Regierung hinausgehend.

Man muss es immer wieder wiederholen: Der entscheidende Faktor für das Funktionieren einer Demokratie ist die Opposition – die parlamentarische und die außerhalb von Verfahren. Die Herausforderung der Demokratie besteht darin, dass auch diejenigen, die eine andere Parteien gewählt, andere Entscheidungen getroffen oder anderes Personal begrüßt hätten, loyal zu den kollektiv bindenden Entscheidungen stehen. Loyalität heißt nicht, den Dingen zuzustimmen – das wäre gar nicht wünschenswert. Loyalität heißt, sie als das anzuerkennen, was sie sind: politisch legitimierte Entscheidungen, gegen die vorzugehen es zumindest in liberalen Demokratien Möglichkeiten gibt, innerhalb und außerhalb der Parlamente.

Wenn das nicht gewährleistet ist, wird Ablehnung und Protest Ablehnung und Protest gegen jenen Mechanismus, der es in liberalen Demokratien erlaubt, mit Abweichungen und unterschiedlichen Interessen zivilisiert umzugehen. Der derzeitige Höhenflug der AfD ist vielleicht nicht nur der Rechtsruck, den die empirische Sozialforschung gar nicht so eindeutig hergibt, sondern vor allem ein Symbol für den Verlust genau dieses Mechanismus. Man muss sich liberale Demokratien, die auf Wahlen und befriedete Massenloyalität setzen, so vorstellen, dass es einen Machtkreislauf gibt. Staatliche Macht setzt Entscheidungen durch, wendet sie verwaltungsförmig an, bekommt die Wirkungen dieser Entscheidungen gespiegelt und muss sich daran abarbeiten – um es sehr verkürzend und vereinfacht zu beschreiben (in autokratischen staatlichen Systemen wird der Machtkreislauf vor allem durch dosierte Formen von Privilegierung bestimmter Gruppen und vor allem Gewalt geschlossen). Dieser Machtkreislauf kann permanent gestört werden, durch den Verlust von Loyalität, durch Protest, durch Korrekturbedarf, durch Anpassung an die öffentliche Meinung, durch Uminterpretation von Entscheidungen. Ein schöneres Anschauungsbeispiel als die partielle Rücknahme von Subventionskürzungen in der Landwirtschaft in den letzten Wochen kann man kaum erfinden – übrigens auch im Hinblick auf das Risiko, durch Rücknahme von Entscheidungen die Fragilität des demokratischen Machtkreislaufs geradezu hypersichtbar zu machen.

Diese Fragilität ist es, die derzeit als Gefährdung der Demokratie erscheint und von der derzeit vor allem die AfD profitiert, die trotz ihrer rechtsradikalen Programmatik und Semantik, die sie nicht im geringsten kaschiert, weit mehr Zustimmung erhält, als man empirisch solche rechtsextremistischen Einstellungen in der Bevölkerung vorfindet.

Was sich wie ein wenigstens ansatzweise beruhigender Gedanke anhört, ist das Gegenteil. Und man könnte daran mit vielen unmittelbar politischen Sätzen anschließen, auch mit Hinweisen auf inhaltliche Fehler, auf die Mechanik des Regierens in einer Koalition von Konkurrenten usw. Aber darüber wird schon viel geschrieben. Mich interessieren eher die Kontrollverhältnisse. Es ist die Kybernetik zweiter Ordnung, die sich für Kreisläufe interessiert, wie auch der Machtkreislauf einer ist. Ranulph Glanville etwa schreibt sehr lapidar: „… wir können nicht länger davon ausgehen, daß der Kontrolleur (oder der Beobachter) ‚oberhalb‘ des Kontrollierten (oder Beobachteten) steht, da der Prozeß zirkulär ist.“* Schon in einem Gespräch, das man hierarchisch zu kontrollieren versucht und entsprechend kontrollierend auftritt, wird man schnell feststellen, dass die Position des Kontrolleurs in praxi eine Illusion ist. Jede Antwort im Gespräch, jeder Response, jede Reaktion ändert die Kontrollverhältnisse, und am Ende weiß man gar nicht mehr, wer wen kontrolliert, auch wenn die Ausgangssituation tatsächlich asymmetrisch oder hierarchisch sein sollte.

So ähnlich ist es mit der Drohung durch eine Opposition, die gewissermaßen außerhalb des demokratischen comment steht. Wie kontrolliert man diese? Durch bessere Argumente? Durch Ignorieren? Oder gar durch Kopieren und Entgegenkommen? Die Verunsicherungen im politischen Machtkreislauf sind so groß, dass die Kontrollversuche allesamt untauglich erscheinen. Die einen kommen der AfD entgegen und kopieren ihre Forderungen, die anderen halten jede Kritik schon für eine Position wie die der AfD. Wieder andere machen den eigentlichen Feind in den Reihen der demokratischen Parteien aus und entlasten sich geradezu vom genauen Hinsehen.

All diese Reaktionen sind Versuche, die rechtsradikale Herausforderung zu kontrollieren und Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen. Aber sieht man genau hin, erscheint die AfD immer mehr als Kontrolleur der Verhältnisse. Sie zwingt den anderen einen Blick auf, den sie selbst nicht gewählt haben. Sie hindert die anderen daran, sich demokratisch zu streiten. Sie setzt jene Themen, mit denen sich Regierung und Opposition von ihr distanzieren wollen. Sie dreht die Kontrollverhältnisse um. Das ist die Kybernetik der derzeitigen Situation. Die Herausforderung ist also nicht, wie man die AfD widerlegt, sondern wie man die Kontrollverhältnisse bewirtschaftet. Zu sehr wird ihr Spiel gespielt – und vielleicht müssen sich die Antipoden unter den demokratischen Akteuren darüber einiger werden. Das können sie aber nur, wenn sie die Kontrollverhältnisse durchblicken.

Übrigens hat der Bauernpräsident in einem Interview zu den geplanten Protesten eindeutig betont, wen er dort nicht sehen möchte. Das ist eine explizitere Einladung als eine auf Büttenpapier und tiefblauer Tinte geschriebene. Wer kontrolliert hier wen?

Armin Nassehi, Montagsblock /255

08. Januar 2024

* Ranulph Glanville: Objekte, Berlin: Merve 1988, S. 213.