Montagsblock /252

Ich schreibe gerade an einer größeren Arbeit und musste dafür ein Zitat nachschlagen, das ich nur undeutlich im Kopf hatte und schaute dafür in dem betreffenden Buch nach, habe es auch sofort gefunden, konnte das Buch aber nicht mehr ins Regal zurückstellen, sondern habe mich festgelesen und beim Lesen einige Deja-vu-Erlebnisse gehabt. Ich habe das Buch immer wieder konsultiert, aber in letzter Zeit nicht in der Hand gehabt. Es machte einen Unterschied – und das ist die Formulierung, die aus diesem Buch auch von jenen immer wieder zitiert wird, die das Buch gar nicht gelesen haben: Eine Information sei „ein Unterschied, der einen Unterschied ausmacht“, zu finden auf Seite 582 der deutschen Suhrkamp-Ausgabe (und war nicht das Zitat, nach dem ich gesucht habe).

Es ist natürlich die Aufsatzsammlung „Ökologie des Geistes“ des Anthropologen, Biologen, Psychologen, Kybernetikers, Philosophen Gregory Bateson von 1972, auf Deutsch 1981 erschienen. Bateson interessiert sich dafür, wie Ordnung entsteht und wie unübersichtlich Ordnung im Vergleich zu Unordnung ist. Der vielleicht interessanteste Aufsatz aus der Sammlung ist der über die „Kybernetik des Selbst“, eine kleine Abhandlung über den Alkoholismus, der vor allem kritisiert, dass die Aufforderung an den Alkoholiker, sich zusammenzureißen und sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen, schlicht an der Ordnungsvorstellung jenes Selbst scheitert, das wir uns üblicherweise über uns selbst erzählen.

Aber hier möchte ich eines seiner wunderbaren Gespräche mit seiner Tochter Cathy wiedergeben, das das Problem der Ordnung beschreibt. Der erste dieser Metaloge beginnt mit der Frage der Tochter an den Vater: Papi, warum kommen Sachen durcheinander? Es brauche viel Zeit, Sachen aufzuräumen und Ordnung zu stiften. Sie aber wieder durcheinanderzubringen, sei ziemlich einfach. Woran liegt das? Das Gespräch läuft so:

Vater: … glaubst du denn auch, du meinst dasselbe mit ‚ordentlich’ wie alle anderen Leute? Wenn Mami deine Sachen aufräumt, weißt du dann, wo du sie findest?

Tochter: Hmmm … manchmal – weil, siehst du, ich weiß, wo sie sie hinlegt, wenn sie aufräumt –

V: Ja, ich versuche auch, sie daran zu hindern, meinen Tisch aufzuräumen. Ich bin sicher, dass sie und ich nicht dasselbe unter ‚ordentlich’ verstehen.

T: Papi, verstehen du und ich dasselbe unter ‚ordentlich’?

V: Ich bezweifle es, mein Schatz – ich bezweifle es.

T: Aber Papi, ist es nicht komisch, dass jeder dasselbe meint, wenn er ‚durcheinander’ sagt, aber alle unter ‚ordentlich’ etwas anderes verstehen? Und ‚ordentlich’ ist doch das Gegenteil von ‚durcheinander’. Oder nicht?

V: Jetzt geraten wir langsam an schwierige Fragen. Lass uns noch mal von vorne anfangen. Du hast gefragt: ‚Warum kommen Sachen immer durcheinander?’ Wir haben einen oder zwei Schritte getan – und jetzt wollen wir die Frage abändern in: ‚Warum kommen Sachen in einen Zustand, den Cathy als ‚nicht ordentlich’ bezeichnet?’ Verstehst du, warum ich diese Änderung vornehmen möchte?

T: … Ja, ich glaube – denn wenn ich eine besondere Bedeutung für ‚ordentlich’ habe, dann werden mir einige ‚Ordnungen’ anderer Leute als Durcheinander vorkommen – selbst wenn wir uns über das Meiste einig sind, was wir als Durcheinander bezeichnen – *

Ordnung, so ein Ergebnis des Gesprächs, ist unwahrscheinlicher als Unordnung. Was aber das Faszinierende an diesem Gedanken ist, ist die Ununterscheidbarkeit der Unordnung, während Ordnungen unterschieden werden müssen – von Unordnung und von anderen Ordnungen oder Ordnungsmöglichkeiten. Unordnung kommt in diesem Sinne nicht im Plural vor, denn mehrere Unordnungen wären mehrere Ordnungen des Unordentlichen.

Ordnung mag auf den ersten Blick als die wünschenswertere Form erscheinen, aber das stimmt nicht. Ordnungen legen fest, Ordnungen enthalten Bestimmtheiten, Ordnungen generieren auch Verantwortung – Unordnung kann indifferent bleiben, ein Fluchtpunkt, als Versteck im Ungefähren, als Verantwortungslosigkeit. Vielleicht sind wir so in Krisen verliebt, weil vor allem die Uneindeutigkeit als krisenhaft erlebt wird. Es scheint weniger riskant zu sein, im Ungefähren zu bleiben, als Lösungen zu suchen.

Unter dem Titel „Die Wurzeln ökologischer Krisen“, ein Vortrag, den er 1970 an der Universität von Hawaii gehalten hat, heißt es bei Bateson schon 1970: Wir stellen fest, „dass alle ad hoc-Maßnahmen die tieferen Ursachen des Problems unberührt lassen, und, was noch schlimmer ist, sie tendenziell sogar noch verstärken und verdichten. In der Medizin ist es dann und nur dann angezeigt, die Symptome zu behandeln, ohne die Krankheit selbst zu heilen, wenn die Krankheit entweder mit Sicherheit das Ende bedeutet oder sich von selbst heilen wird.“**

Natürlich sind ad hoc-Maßnahmen keine Unordnung, denn am Ende ist Ordnung unvermeidbar, schon weil man einen Unterschied machen muss, wenn man überhaupt etwas tut – etwa nur Symptome zu behandeln. Aber es wäre eine unordentliche Ordnung, die die Probleme, um die es geht, außerhalb der Ordnung lässt und eben nur Symptome behandelt. Ist das nicht eine Parabel auf manche Kämpfe, die gerade geführt werden? Vor allem Kulturkämpfe sind insofern ordnungsbildend, als sie jene Symptome bekämpfen, die sie selbst erzeugen. Ich will keine Beispiele nennen, um nicht selber Unterschiede auf diesen Gebieten zu machen. Aber wer nicht ganz blind durch die Welt läuft, weiß, welche sinnlosen Kulturkämpfe auf der Oberfläche gerade geführt werden. Worauf Bateson im Gespräch mit seiner Tochter hingewiesen hat, ist ja gerade, dass es die Frage eines Beobachters ist, was für wen als Ordnung und was als „nicht ordentlich“ angesehen wird. Ordnung ist eine Funktion von Unterscheidungen – und manche stabile Ordnung kann aus einer anderen Perspektive als ziemlich unordentlich erscheinen, etwa solche Ordnungen, die nur Symptome behandeln.

Dies können wir uns, so hat es Bateson in dem Vortrag auf Hawaii gesagt, nur leisten, wenn es ohnehin zu Ende geht oder wenn die Probleme sich von selbst lösen. Beides wäre keine Option – deshalb sollten wir es lernen wie Cathy: Warum erscheint für manche das als Ordnung, was anderen als Nicht-Ordnung erscheint? Ich empfehle jedenfalls, die „Ökologie des Geistes“ zu lesen.

Armin Nassehi, Montagsblock /252

18. Dezember 2023

* Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 33.

** Ebd., S. 627.