Montagsblock /244

Die heutige Episode ereignete sich vor über 20 Jahren. Irgendwann zu Anfang der Nullerjahre wurde ich ins Amazon-Headquarter nach München eingeladen. Man erkundigte sich bei uns, ob wir Kurzrezensionen zu ausgewählten Büchern schreiben könnten. Wir, das war damals die Redaktion von changeX, eines der ersten unabhängigen Onlinemagazine in Deutschland. Ich war zu jener Zeit geschäftsführender Gesellschafter und Chefredakteur. Folglich war ich irgendwie zuständig für die Mehrfachverwertung unserer Artikel und Inhalte.

Ich fuhr neugierig zur angegebenen Adresse und fand ein kleines Team vor. Hinterhofbüro. Start up-Grau. Wir unterhielten uns belanglos über die Zukunft des Onlinehandels, und den Verantwortlichen quoll der Optimismus aus den Ohrwascheln. Für den Augenblick bräuchten sie zur Aufwertung der Bücher kurze Empfehlungstexte mit der Headline „Aus der Amazon.de-Redaktion“. Ich witterte größeres Geschäft, was sich indes umgehend in Luft auflöste, als mir ein Texthonorar angeboten wurde, was unterhalb des Mindestlohns vom Mindestlohn lag. 25 Euro, irgendwie um den Dreh herum. Ich aber dachte, gut, einen Fuß drin zu haben, vielleicht würde sich das Online-Buchgeschäft in den nächsten Jahren noch entwickeln. Große Hoffnung hatte ich allerdings nicht, denn die stationären Branchenfürsten nahmen den kleinen Hinterhofzwerg aus München auch nicht ernst.

Und so lieferten wir in der Folge weitere 25-Euro-Texte, die wir als schnelle Textkondensate aus der laufenden changeX-Berichterstattung herausfilettierten. Wie gesagt in der Hoffnung: Kleinvieh macht auch Mist.

Eine Zeitlang später bekam ich wieder einen Anruf aus München, ob ich vorbeikommen wolle, man hätte etwas Wichtiges mit mir zu besprechen. Der CFO (Chief Financial Officer) saß jetzt vor mir und erklärte, dass das US-Headquarter ab jetzt lieber auf 5-Star-Lesermeinungen umstellen wolle. Was ich davon halten würde? Ich hielt umgehend eine flammende Rede auf den unabhängigen Rezensionsjournalismus, auf die Gatekeeperfunktion von Qualitätsmedien und dass sich dieses 5-Star-Jojo in Deutschland niemals durchsetzen werde.

Nun ja, Irren ist menschlich. Heute ist in der Verlagswelt das Empfehlungsmarketing bei Amazon wichtiger als jede Buchrezension in den Qualitätsmedien (dass ich diesen Satz auch nach so vielen Jahren der Buchrezensionen für die Süddeutsche Zeitung schreiben muss, unglaublich). Und Amazon, so wird branchenintern geschätzt, ist längst der größte Buchhändler in Deutschland mit einem Marktanteil von 40-50 Prozent. changeX wiederum (obwohl es von Winfried Kretschmer bis heute in beeindruckender Qualität fortgeführt wird) ist in der Nische angelangt. Angepasst haben sich beide: das kleine Onlinemagazin mit publizistischem Eifer, das die Kronjuwelen des Diskurses sichtbar macht, und der riesige Blockbuster mit ausgedehntem Profitschlund, für den Klopapier und Schuhe umsatztechnisch längst wichtiger sind als Bücher.

Wirtschaftlich kann man schlecht widersprechen: Amazon hat sich in der digitalen Wirtschaft erfolgreich angepasst (und alle Konsumschafe haben mitgemacht). Kurz noch ein zweiter Rückblick: Im Jahr 2005 war in den USA die Zahl der neu veröffentlichten Musikalben um 36 Prozent gestiegen. Der Grund: Jeder Künstler konnte plötzlich seine Musik selbst aufnehmen und veröffentlichen. Allein in MySpace wurden damals über 300.000 Titel zum kostenlosen Herunterladen eingestellt. In den nächsten Jahren erlebten wir nicht nur in der Musikbranche eine erhebliche Ausweitung des Produktangebots. Fast überall produzierten Menschen Produkte und Dienstleistungen jenseits von Kaufhaus, Einzelhandel, Handwerk und Old Economy.

Bis dahin galt im Handel die 80:20-Regel: Mit 20 Prozent der Produkte erzielt man 80 Prozent des Umsatzes. Jedes Kauf- und Warenhaus tickte damals so (sie verschwinden übrigens auch gerade). Von zehn Kaffeekannen, Küchenschürzen oder Sportschuhen wurden bei Lichte betrachtet nur zwei Modelle nachgefragt. Diese Logik begann sich umzudrehen. Im Internethandel sollte plötzlich die 98-Prozent-Regel gelten. Alle angebotenen Artikel wurden zu 98 Prozent mindestens einmal monatlich oder vierteljährlich verkauft. Und das beste Beispiel war natürlich Amazon: „98 Prozent der meistverkauften 100.000 Bücher finden einmal im Quartal einen Abnehmer.“ Ähnlich hoch war zu jener Zeit die Prozentzahl bei fast allen Online-Musik- und -Filmhändlern rund um den Erdball.

Auch wenn es auf der Frankfurter Buchmesse keiner hören will: Buchverlage entwickeln und produzieren Print-Einzelwerke mit Lagerhaltung und hohem Marketing- und Vertriebsaufwand via Buchhandel. Das Modell verliert immer mehr an Bedeutung. Das Medienverhalten der Zielgruppen ändert sich rasant. Der Markt schrumpft. Das war, wie oben beschrieben, bereits vor 20 Jahren klar. Amazon hat das Geschäftsmodell komplett gedreht. Die Internetökonomie setzt heute auf die Vielfalt der Produzenten, die zur Selbstausbeutung bereit sind, und der Konsumenten, die in den Fängen der Plattformökonomie zappeln.

Kleine Pointe am Schluss: Wenn Sie auf den Amazon.de-Text bei Chris Andersons „The Long Tail“ (deutsche Ausgabe) gehen, steht darunter als Autor ein gewisser Peter Lutz. Nur unter uns, der richtige Autorname ist Peter Felixberger, mein Name. Amazon hat zu guter Letzt auch das geschafft: der Urheber ist nachrangig. Lutz oder Felixberger – wen interessiert das? Und der Contentquirl ChatGPT vermanscht längst jede weitere Originalität. Wie sagte es ein bekannter Kinderbuchautor kürzlich: „Wenn ich meinen Namen in ChatGPT eingebe, bin ich der Autor von Harry Potter.“

Und wer ist Peter Felixberger? „Es tut mir leid, aber ich konnte keine Informationen über eine Person namens Peter Felixberger finden. Es ist möglich, dass es sich um eine private Person handelt oder dass die Informationen nicht öffentlich verfügbar sind.“

Peter Felixberger, Montagsblock /244

23. Oktober 2023