Die für jüdische Einrichtungen und für Jüdinnen und Juden bedrohlichen Proteste von pro-palästinensischen und Pro-Hamas-Demonstrationen könnten mit die stärksten Auswirkungen auf die künftige migrations- und fluchtpolitische Debatte haben. Die Proteste sind manchem rechten Mob nicht unähnlich. Dagegen scheint man derzeit kaum angehen zu können. Berichte von jüdischen Organisationen und Einrichtungen bezeugen das auf eine kaum auszuhaltende Weise.
Dass auch manche Protestierende aufgrund der israelischen Reaktion zum Teil Angst um eigene Verwandte und Freunde haben, ist sehr verständlich. Die humanitäre Situation in Gaza ist katastrophal, aber sie ist in erster Linie ein Ergebnis dessen, dass die Hamas die eigene Bevölkerung als Geisel nimmt. Ein Grund für Bedrohungen jüdischer Einrichtungen ist das nicht.
Für manche scheint sich in dieser Aktualität die vollständige Migrationsrealität Deutschlands abzubilden. Das ist ebenso falsch und übergriffig, wie es für Viele ein bequemer Fehlschluss ist – der mindestens zwei Quellen hat: Zum einen ist es eine Möglichkeit, von autochthonem Antisemitismus abzulenken, vom rechten groben, aber auch vom bürgerlichen feinzisellierten. Zum anderen scheint es eine Vorlage oder zumindest ein Hintergrund dafür zu sein, migrations- und fluchtpolitisch Handlungsfähigkeit simulieren zu können, wie das nun geplante Gesetz zur Erleichterung von Abschiebungen zeigt.
Die ostentative Form eines von islamistischen und nationalistischen Gruppen getragenen Bedrohungsszenarios ist sehr sichtbar – und es macht tragischerweise die gesamte Migrationsrealität des Landes damit noch unsichtbarer, verzerrt diese geradezu. Dass es Unterbringungsprobleme mit Geflüchteten angesichts von allgemeiner Wohnungsknappheit gibt, dass Gemeinden logistisch und finanziell total überlastet sind, dass es erwartbare Alltagskonflikte gibt, dass es für viele Flüchtlinge viel zu lange dauert, bis sie arbeiten können bzw. dürfen, dass für manche Gruppen ein Integrationsdefizit zu verzeichnen ist, kann nur leugnen, wer die Dinge nicht sehen will – das ist ohne Zweifel alles richtig.
Aber es überlagert gerade vollständig, dass Deutschland im Ganzen ein erfolgreiches Einwanderungsland ist – übrigens seit seinem Bestehen und mit unterschiedlichen Formen der Immigration nach Deutschland, auch Formen der Fluchtmigration. Die aufmerksamkeitsökonomische Schieflage besteht darin, dass nur die Probleme und Konflikte sichtbar werden, alles andere aber nicht. Dass man sich lange nicht um Fehlallokationen gekümmert hat, auch nicht um eine Religionspolitik gegenüber einer kämpferischen Version des Islams, ist schon länger bekannt. Aber das sind tatsächlich eher die sichtbaren Krisenerscheinungen – dass der Großteil der Migrationsrealität in Deutschland kaum sichtbar ist, verweist paradoxerweise darauf, dass sie unspektakulär erfolgreich ist.
Man bedenke nur, wie selbstverständlich im Vergleich zu früheren Jahrzehnten für die deutsche Alltagsrealität eine Pluralität von Menschen geworden ist, denen man eigene oder familiale Herkünfte aus anderen Regionen der Welt ansehen kann, ohne dass das irgendeinen Informationswert hätte. Was das angeht, ist Deutschland erheblich internationaler, pluraler und selbstbewusster migrantisch geworden. Überlagert wird das aber derzeit durch die logistischen Probleme mit der Fluchtmigration, aber besonders durch die Folgen des Angriffs der Hamas auf Israel und die sichtbaren Folgen auf den Straßen deutscher Großstädte und für jüdische Einrichtungen.
Vor diesem Hintergrund nun mit einem Gesetz aufzuwarten, den „Migrationsdruck“, wie es heißt, dadurch zu mindern, dass man „in großem Stil“, hieß es, abschieben kann, ist eine Farce. Alle Beteiligten wissen, dass das, was es an Überlastungen gibt und was tatsächlich in manchen Gruppen schwierige Inklusions- und Integrationsprozesse angeht, nicht durch mehr Abschiebungen zu bewerkstelligen sein wird – ganz abgesehen von den humanitären Dimensionen, die das immer auch hat. Alle Expertise weiß ziemlich genau, dass es Abschiebungen „im großen Stil“ gar nicht geben kann und nicht geben wird.
Nach Berechnungen von Experten ist damit zu rechnen, dass die Neuregelung um die 600 Abschiebungen mehr pro Jahr ermöglichen würde – aber das wissen nicht nur diese Expertisen, sogar im Gesetzentwurf selbst ist zu lesen, es sei „schwer abschätzbar“, welche Effekte das Ganze haben werde. Es wird also ein Gesetz geben, das selbst noch durch seine eigenen Protagonisten im Innenministerium mehr oder weniger unfreiwillig mitliefert, dass das Ganze nur eine symbolpolitische Maßnahme ist – anders kann man das nicht verstehen. Übrigens wird die Erleichterung des Aufgreifens von Ausreisepflichtigen gerade nicht die Gefährder und die Militanten treffen. All das kann man wissen. Aber eine angemessene Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik würde voraussetzen, nicht nur Stimmungen zu bedienen, sondern mit Konzepten zu arbeiten, die Flüchtlinge selbst aus dem Teufelskreis von Illegalität und Überlastung aller beteiligter Instanzen befreit. Für das Kursbuch 215 haben Peter Felixberger und ich mit der österreichischen Migrationsforscherin Judith Kohlenberger ein aufschlussreiches Gespräch geführt.
Migration ist in Deutschland das polarisierbarste und angstbesetzteste Thema überhaupt – vielleicht gerade das Schlüsselthema im Hinblick auf politische Neuordnungen des Parteiensystems und der politischen Arithmetik. Nur so ist zu erklären, dass die Bundesregierung mit einem Gesetz aufwartet, das ganz offenkundig eher eine Stimmungslage bedient, ohne damit geradezu fiktive Effekte erzielen zu können.
Man befördert damit eher die, die jede Gelegenheit ergreifen, die Lage für Flüchtlinge wegen angeblicher pull-Folgen eher zu verschlechtern, man denke etwa an die Diskussion um frühere Arbeitserlaubnis. Oder man bedient damit gleich die, die sich um einen rechtsstaatlichen Umgang mit dem Thema ohnehin nicht scheren und gleich das gesamte Asyl- und Flüchtlingsrecht entsorgen wollen und denen man regierungsamtlich signalisiert, dass sie in die richtige Richtung denken.
So gesehen sind es gerade die vor allem von den Bedrohungskulissen gegenüber Juden und dem offenkundigen Hass gegen Israel, aber auch gegen die deutsche Unterstützung Israels getriebenen sichtbaren Protestformen, die einer Symbolpolitik eine Legitimation verleihen, die sie nicht verdient. Was für eine verfahrene Situation.
Armin Nassehi, Montagsblock /245
30. Oktober 2023