Montagsblock /242

Für das Kursbuch 214 „Freund und Feind“ haben Peter Felixberger und ich vor einigen Monaten ein Gespräch mit dem in Tel Aviv arbeitenden Soziologen Natan Sznaider geführt. Es ging um die inneren und äußeren Freund/Feind-Konstellationen Israels, um den innerhalb des Landes ausgetragenen Konflikt zwischen einerseits einer religiös orientierten, deutlich partikularistischen Bewegung, die für die eigene Integrität sogar die demokratischen Errungenschaften der Gewaltenteilung in Frage stellt. Auf der anderen Seite steht eine eher universalistisch orientierte, nicht nur, aber auch säkulare Seite, die die universalistischen Prinzipien der Demokratie, einer pluralistischen, auch ethnisch pluralistischen Kultur und des Rechtsstaates hochhält. Paradox freilich, so Sznaider, stellt sich die Situation deshalb dar, weil auch die universalistische Seite stets und unhintergehbar auf die partikular jüdische Identität festgelegt ist. „Sicherheit, freie Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft können nur in einem liberal-demokratischen Milieu gedeihen. Aber auf das Jüdische in ihrem Selbstverständnis wollen die meisten Demonstrierenden auch nicht verzichten“, so Sznaider mit Rekurs auf die regierungskritischen Demonstrationen der letzten Monate. Der westliche Universalismus der einzigen Demokratie in der Region, so Sznaider, wird letztlich durch seine historische Genese eingeholt – und die innenpolitischen Auseinandersetzungen Israels bilden dies paradigmatisch ab.

Zugleich sieht sich Israel einer neuen äußeren Bedrohung ausgesetzt, die ihrerseits im Namen einer universalistischen postkolonialen Kritik agiert, die Israel für einen kolonialen Staat hält und die historische Genese Israels für eine europäische Angelegenheit. Von dieser weltgesellschaftlichen Verschiebung des Holocaust von einem singulären Zivilisationsbruch hin zu einem Verbrechen unter anderen gibt Organisationen wie der Hamas oder der Hisbollah eine nachträgliche Rechtfertigung, die man bei manchen Beobachtern des schrecklichen Terrorangriffs gegen Israel auch in den Reaktionen in unseren Kommentarspalten und auf eine ekelhafte Weise offensichtlich auf den Straßen Berlins beobachten kann, wo Palästinenser feiern, was sie in den letzten Jahren auf Demonstrationen immer wieder gefordert haben: den Versuch from the river to the sea durchzustechen.

Natan Sznaider hat in dem Gespräch sehr deutlich gezeigt, wie sehr sich Israel in inneren und äußeren Widersprüchlichkeiten bewegt – und gerade deshalb nur auf sich selbst hoffen kann. Man kann Kritik an Israels Siedlungspolitik üben und auch sehen, dass die Lage der Palästinenser gerade im Gaza-Streifen nicht wirklich befriedigend ist – das aber allein Israel anzulasten, ist eine Verkürzung, die man auch in manchen Reaktionen auf den Angriff wahrnehmen kann. Um es im Klartext zu sagen: Die palästinensische Kriegspartei hat alles im Sinn, nur nicht die Verbesserung der eigenen Lage oder eine friedliche Lösung für die in Gaza lebenden Palästinenser. Die Existenzberechtigung der Hamas und auch der Hisbollah ist nicht, bessere Lebensverhältnisse zu schaffen oder eine funktionierende Staatlichkeit, sondern Israel zu zerstören. Ihr einziges Geschäftsmodell ist der permanente Kampf, der sich offensichtlich auszahlt. Dass dafür jedes Mittel recht ist, wurde am Wochenende nur zu deutlich.

Natan Sznaiders Beschreibung in unserem Gespräch bekam dadurch eine schreckliche Aktualität, nämlich dass der Kampf zwischen Partikularismus und Universalismus in Israel durch den äußeren Angriff letztlich zugleich verschärft und gedämpft wird. Jedenfalls wird der äußere Feind die innenpolitischen Gegner dazu zwingen, die eigene Existenz militärisch zu sichern, und zwar notwendigerweise drastisch.

Die Feindschaft gegen alles Jüdische war stets ein Kampf zwischen Partikularität und Universalismus. Jetzt streiten sich die üblichen Verdächtigen in den sozialen Netzwerken darum, wie man den innereuropäischen/deutschen Antisemitismus gegen den muslimischen ausspielen kann – und umgekehrt. Kritik am islamischen oder wenigstens islamistischen Antisemitismus wird in der deutschen linken Öffentlichkeit gerne mit „Rassismus“ gleichgesetzt – auch eine Reminiszenz an die postkoloniale Bedeutungsverschiebung des Holocausts, die tief in den eher linken Kommentarspalten verankert ist, nie explizit, womöglich auch selten intentional, dafür aber semantisch wirksam. Schon dass die Terroristen der Hamas als „Kämpfer“ bezeichnet werden, von einer „Spirale der Gewalt“ gesprochen wird oder eine klammheimliche Freude zum Ausdruck kommt, dass es jetzt gerade die Regierung Netanjahu trifft, zeigt, wie imprägniert viele Denkungsarten davon sind.

Der europäische Antisemitismus, insbesondere der deutsche, war vor allem davon geprägt, das Jüdische als ein eigenes Fremdes zu adressieren. Die größte Verfehlung des assimilierten oder bürgerlichen Juden bestand darin, dass man ihn am Ende nicht mehr unterscheiden konnte. Die Ununterscheidbarkeit war es letztlich, die den Juden zu einem Monster machen konnte, das man dafür instrumentalisiert hat, die Arbitrarität des eigenen in den Griff zu bekommen. Richard Wagner hat es in seinem Pamphlet über „Das Judenthum in der Musik“ so zum Ausdruck gebracht: „Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für den Juden aber zu allernächst so viel als: aufhören, Jude zu sein“ – will heißen: endlich aufhören, auch uns alle auf unsere partikularen Limitationen hinzuweisen, dabei haben gerade nicht die assimilierten Juden auf deren Judentum gepocht, sondern ihre antisemitischen Kritiker. Hier geht es noch um eine semantische Vernichtungsfantasie, die physische folgte derselben Logik – wenn nur die Juden vernichtet sind, kann die Welt zu sich selbst finden. Und die derzeitige folgt ebenfalls dieser Logik.

Die ganze Diskussion, ob der Antisemitismus von hier stammt oder aber von Migranten eingeführt wird, ist Unsinn und zeugt von, um es sehr freundlich zu sagen, mindestens Denkfaulheit. Die Wurzel beider sind logisch sehr ähnlich – man kann es übrigens an denen gut studieren, die vor allem als Linke den postkolonialen „Befreiungskampf“ der Hamas wenn nicht für sympathisch, so zumindest für legitim halten. Denn die Denkfigur ist ganz ähnlich dem Judenhass der Wagners und wie sie alle hießen. Manche Linke geraten in einen irrationalen Judenhass, weil sie in Israel die Ununterschiedenheit zu dem wahrnehmen, was sie selbst verachten: die marktwirtschaftliche Offenheit, die pluralistische Offenheit der liberalen westlichen Lebensweise, nicht zuletzt die Koalition mit Amerika – wenn man so will, die Nicht-Unterschiedenheit zum eigenen. Mit Israel müsste man eine Staatlichkeit und Gesellschaftlichkeit verteidigen, die dem Gegenstand der eigenen Lebensform, die stets und wohlfeil Gegenstand von Kritik ist, allzu ähnlich ist. Nur vor diesem Hintergrund konnten Terrororganisationen wie Hamas und Hisbollah, vorher die PLO und andere, für linke (sic!) Befreiungs(sic!)-Bewegungen gehalten werden, finanziert und militärisch ermöglicht vor allem durch den Iran, in dessen eigene Revolution 1979 viele Linke durchaus Hoffnungen gesteckt haben. Überlebt haben sie es zum größten Teil nicht.

In der Kritik am jüdischen Israel schwingt der antikapitalistische Reflex gegen das internationale Finanzjudentum ebenso mit wie ein eher ungeklärtes Verhältnis zu einer wehrhaften Frontstellung gegenüber autoritären und autokratischen Formen. Die Rahmung des Ganzen als rassistisch ist am Ende nur eine ironische Brechung der historischen Rassifizierung des Jüdischen in unserer eigenen Geschichte. Und es geht mir hier nicht um Linke, sondern darum, dass die entsprechenden Motive und Denkmuster von den „Kämpfern“ und der Warnung vor „Eskalationsspiralen“ oder die Verniedlichung des Geschehens als „Tragödie“ von jenen Ressentiments getrieben sind, die auch die nicht-intendierten, die latenten, die immerfort auch gegen die Intentionen ihrer Sprecher wirksamen Formen des Antisemitismus ausmachen.

Der Zeitpunkt des Terrorangriffs gegen Israel mit all seiner zivilisatorischen Selbstdementierung hätte für Israel nicht riskanter sein können – gerade in einer Zeit, in der sich das Land in einem inneren Kampf darum befindet, ob es eine westliche Demokratie bleiben kann und will oder den eigenen Gegnern in der Region ähnlicher wird. Natan Sznaider jedenfalls hat in unserem Gespräch auf diese Spannung hingewiesen, die mit dem bevorstehenden Krieg zunächst sicher suspendiert wird, aber danach wohl von noch höherer Relevanz werden dürfte.

Jedenfalls wird auch hier deutlich, dass sich weltgesellschaftlich eine Demarkationslinie zwischen autokratischen und demokratischen, geschlossenen und pluralistischen, rechtsstaatlichen Formen und Willkürherrschaft immer deutlicher zeigt. Darum wird in der Ukraine ebenso gekämpft wie gerade in Israel. Wahrscheinlich muss man sich, das habe ich wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine auf ZEIT-online geschrieben, diese Frontstellung, ich habe sie Feindschaft genannt, auch intellektuell annehmen. An der Seite Israels zu stehen ist deshalb gerade keine philosemitische Sentimentalität, die bei manchen Reaktionen in ihrer Unbedingtheit durchscheint, sondern eine Frage ums Ganze.

Armin Nassehi, Montagsblock /242

09. Oktober 2023