Montagsblock /239

Nein, es kommt nicht noch ein Kommentar, ob die Brandmauer gefallen ist in Thüringen und ob es ein Dammbruch war (ähnliche Metapher) oder ob das schon Zusammenarbeit ist oder nur eine unvermeidliche Nebenfolge von Mehrheitsverhältnissen. Manche meinen sogar, es gehe um die Sache, nämlich die Senkung der Grunderwerbssteuer als angebliche Entlastung von Familien, die sich ein Haus oder eine Wohnung zulegen wollen. Um all das geht es auch – aber nicht in diesem Montagsblock.

Vielleicht lohnt sich eher ein Blick auf die Konstellationen – und die Konstellationen versteht man am besten, wenn man sich die triumphalen Gesten von AfD-Politikern ansieht, die die ganze Angelegenheit als einen weiteren Schritt hin zur eigenen Etablierung feiern und sich zugleich als Brandmauer (sic!) gegen jene gerieren, die von den meisten als der Gottseibeiuns schlechthin ausgegeben werden, die Grünen nämlich. Der Hinweis lautet: Ohne uns werdet Ihr die Grünen nicht los. Die Attraktivität dieses Gedankens wird sicher steigen, so lange es weiter gelingt, zu zeigen, dass die unweigerlichen Herausforderungen des dräuenden Klimawandels vor allem den Grünen zuzurechnen sind. Den Grünen wird man (in Abwandlung des jüdischen Bonmots, man werde den Juden den Holocaust niemals verzeihen) den Klimawandel niemals verzeihen. Vielleicht sind es deshalb womöglich nicht die Grünen, die das Thema wirklich durchsetzen können. Wie sagte Luisa Neubauer so klug? Den Kampf um den Klimawandel werde man nicht links gewinnen.

Was im Thüringer Landtag passiert ist, ist ein interessantes Schauspiel. Die Gemengelage unter den demokratischen Parteien ist so sehr von Misstrauen geprägt und von wechselseitigen Zurechnungen der Misere, dass die AfD fast als ausgeschlossene Dritte agieren kann. Alle spielen letztlich Höckes Spiel, der deutlich erkannt hat, dass die demokratischen Parteien so wenig in der Lage sind, einen zivilisierten Streit um die Sache ins Werk zu setzen, dass die Rechten alle Beteiligten vor sich hertreiben können. Den eher Linken dankt man es, bei jeder Gelegenheit noch einmal auf die Brandmauer skandalisierend aufmerksam zu machen, die zu bröckeln scheint. Und das aufgebaute Ressentiment der Konservativen gegen die vor allem mit den Grünen assoziierten Herausforderungen von Klimawandel über Energiepreise, Wirtschaftsschwäche und Atomausstieg, Migration und innere Sicherheit ist so groß, dass man sich fast gerne treiben lässt. Dabei gibt es bei all diesen Themen eklatante Herausforderungen. Höcke agiert wie ein ostasiatischer Kampftechniker. Er muss gar nicht draufhauen, sondern kann genüsslich die Selbstbewegungen der unterschiedlichen Gegner nutzen, sie verstärken und die Kombattanten so aufeinander zutreiben. Er und die Seinen werden dadurch immer unsichtbarer – und die anderen spielen das Spiel mit, weil sie keine Idee davon haben, wie man der rechtsradikalen und faschistischen Herausforderung Herr wird.

Eines kann man der AfD und ihrem denkerischen Vorfeld wirklich nicht vorwerfen, nämlich im Dunkeln und intransparent zu lassen, was sie vorhaben. Aus ihren Zielen machen sie überhaupt keinen Hehl. Und dort, wo man noch offener reden kann, wird es noch klarer. Benedikt Kaiser hat vor einigen Tagen in der Schnellroda-Zeitschrift „Sezession“ einen bemerkenswerten Text geschrieben. Er höhnt gegen Konservative, die weiter Mitte-Rechts-Akteure sein wollen, also einen demokratischen Konservatismus pflegen und damit gewissermaßen Teil des „Systems“ sein können. Der größte Feind dieser Leute sind nicht die Grünen oder linke Sozialdemokraten, sondern die CDU. Es ist gewissermaßen wie Rezo von rechts: Die Zerstörung der CDU ist das Ziel, ganz nach dem Muster anderer europäischer Länder, in denen die Pendants der CDU längst verschwunden oder zu Rechtsparteien mutiert sind.

Mich erinnert das ein bisschen an die späten 1970er und frühen 1980er Jahre – als ich mit dem Studium begonnen habe. Da tummelten sich allerlei durchgeknallte linksradikale Gruppen an den Hochschulen, nicht nur die von Ostberlin finanzierten Spartakisten, die geradezu generalstabsmäßig organisiert waren, sondern vielfältige linke Gruppen mit hohem Theoriebedarf und klarem Feindbild: Deren Feinde waren nicht Franz-Josef-Strauss (damaliger Kanzlerkandidat) oder andere Konservative aus der Union, sondern in erster Linie die SPD. Diese haben sie abgrundtief gehasst, weil sie ihnen als das Haupthindernis erschien (wie im „Leben des Brian“ natürlich die judäische Volksfront Hauptfeind der Volksfront von Judäa war und nicht die Römer). Nur war das damals wenig wirksam und weniger durchdacht als die heutigen Rechten. Die Durchgeknalltesten landeten im RAF-Terrorismus, die anderen haben sich mit der Zeit zivilisiert.

Das Höcke-Spiel, die Gegner in ihrem internen Streit zu bestärken und als ausgeschlossener Dritter deren Spiel zu befeuern, ist sehr wirksam, und allen Beteiligten – in Thüringen ebenso der Minderheitsregierung wie auch der tolerierenden Opposition – fehlt offensichtlich auch nur eine Ahnung davon, dass die interne Radikalisierung des demokratischen Streits diesseits der AfD jenen in die Hände spielt, die die demokratischen Verfahren als Verfügungsmasse missbrauchen und östlich der ehemaligen deutschen Demarkationslinie Umfragewerte mit 20er- und 30er-Werten erreichen – bis an die Schwelle verfassungsrelevanter Sperrminoritäten. Für Wähler dürfte das schon deswegen attraktiv sein, weil es wie ein Ausweg aus den gesellschaftlichen Herausforderungen aussieht, denen sich alle stellen müssen – von den Grünen über die SPD und die FDP bis hin zu Union. Dieses Spiel geht so lange auf, so lange sich die demokratischen Parteien nicht darauf einigen können, sich gegenseitig nicht als Feinde zu sehen, sondern als Wettbewerber um die Sache – die übrigens mehr Differenz, mehr Streit um richtige Konzepte, mehr produktive Kontroversen verdient hätte. So lange aber die Herausforderung selbst als Feind markiert wird (symbolisiert in allem, was mit den „Grünen“ in Verbindung gebracht werden kann), wird das nicht funktionieren. Die das womöglich am wenigsten kapieren, ist der Teil der Publizistik, der sogar den Erfolg der AfD einem „grünen Klimawahn“ in die Schuhe schiebt statt der Größe der Herausforderungen und fehlender Entscheidungskompetenz. Früher hätte man sie „Sympathisanten“ genannt – was sie freilich ebenso wie die anderen früher nicht sind.

Dies ist übrigens kein Argument für die Grünen, es ist überhaupt kein politisches Argument im engeren Sinne (und ich hätte bei den Grünen an manchen Politikfeldern einiges zu kritisieren). Es beschreibt nur, wie die Befeuerung des Symbols „Grün“ mit allem, was damit aufgerufen wird, den Höckes in die Karten spielt. Wenn die demokratischen Parteien die AfD wirklich loswerden wollen (das setze ich einmal voraus), dann können sie es nur, wenn sie das tun, was die Demokratie erfordert: 1. politische Gegner auf einen gemeinsamen Boden zu stellen und Lösungen zu suchen, für die man die AfD nicht braucht; 2. Kompetenz zu vermitteln, die gerade denen zugutekommt, die offensichtlich so elitenkritisch sind, dass für sie die Wahl von inkompetenten Faschisten denkbar wird; 3. Vereinbarungen darüber, dass diese politischen Bewerber prinzipiell miteinander kompatibel sind, auch wenn sie gerade Koalitionen oder Ähnliches ausschließen (was ja völlig legitim ist).

Kann es Orte geben, dies zu inszenieren? Könnten die Parteien des demokratischen Spektrums eine solche Form hinkriegen? Ist genügend Problembewusstsein dafür da, das gerade für die Konservativen der rechte Rand eine echte Herausforderung ist? Nicht alle haben es so kommod wie die CSU, die Vieles durch die Freien Wähler abpuffern kann. Vielleicht wäre das ein starkes Signal: die Bedingung dafür zu schaffen, dass der entsetzliche Spruch der Rechten, die „Systemparteien“ unterschieden sich letztlich nicht voneinander, nicht mehr plausibel erscheinen kann. Diesen Spruch gab es auch bei den verwahrlosten Linken der 70er und 80er, denen das Wasser am Ende durch die Zeitläufte abgegraben wurde – übrigens auch durch eine damals starke SPD, die mit einer Politik des sozialen Aufstiegs und einer Teilhabepolitik eine angemessene Basis dafür geschaffen hat. Ähnliches braucht es auf der rechten Seite heute – aber das gelingt nur, wenn man sich nicht vorführen lässt. Ob die Union dafür die Kraft hat und ob die andere Seite Verständnis für die Herausforderung dieser Aufgabe aufbringen kann? Wenig spricht dafür, und doch muss in diese Richtung gedacht werden. Das Problem ist, dass die heutigen Rechtsradikalen, mindestens Leute wie Höcke, um Längen klüger und auch gerissener sind als die damaligen Linksradikalen, die in der Versenkung verschwunden sind. Das ist keine gute Nachricht. Mit einem Bodensatz von 10 bis 15 % manifest Rechtsextremen wird man leben können und müssen, aber alles andere wird angemessene Problemlösungskompetenzen behindern.

Für das gerade erschienene Kursbuch /215 „Soziale Konfliktzonen“ habe ich einen Text über das „konservative Bezugsproblem“ geschrieben, das gerade eher mitte-rechte Anliegen adressieren kann.

Armin Nassehi, Montagsblock /239

18. September 2023