Im Urlaub hat man plötzlich Zeit für Dinge, deren Verpassen man sonst nicht einmal wahrnimmt. Für die Sonne zum Beispiel. Morgens um kurz vor sieben, wenn der Himmel schon hell ist und sie sich trotzdem noch verbirgt — man ist schon unsicher, wo sie bleibt —, und dann schiebt sie sich als glutroter Kreis hinter den Hügeln hervor. Und man ist tatsächlich ergriffen von der Macht und Strahlkraft dieses Himmelskörpers, selbst die (schon großen) Kinder, die ausnahmsweise schon früh ihr Bett verlassen haben, um das Schauspiel zu sehen und die kurzen Momente frischer Morgenluft zu erleben, die nun von der Sonne schon wieder vertrieben werden.
Dann abends gegen 20.30 Uhr, wenn sich die Sonne den Hügeln am gegenüberliegenden Horizont nähert, wildes Farbenspiel am Himmel, und plötzlich ist sie dort verschwunden, um den Sternen am Firmament Platz zu machen. Jeden Morgen, jeden Abend. Und man bemerkt die Verschiebung der Zeitpunkte von Auf- und Untergang, versucht, sich deren genauen Orte am Horizont zu merken. Sich vorzustellen, wie der auf diese Weise bemerkbare und sich jährlich verändernde Einfallswinkel der Sonne aufgrund der gekippten Erdachse die Jahreszeiten verursacht. Der eigene Zeitrhythmus verändert sich dabei von Urlaubstag zu Urlaubstag, wird langsamer — nicht nur der Hitze wegen —, bis man sich kaum noch kompatibel fühlt mit der hochgetakteten Welt irgendwo da draußen, wo keine Zeit mehr für den Lauf der Sonne bleibt und die Klimaanlage im Büro es oft schwierig macht, überhaupt etwas über ihre Strahlen und deren Wirkung zu sagen.
Die menschliche Zeitwahrnehmung ist vielschichtig, und zumindest mir ist nicht vollständig klar, was diese spezielle Urlaubszeitverlangsamung im Detail ganz genau ausgemacht hat. Wenn man im Urlaub viel Neues erlebt, kommt einem die Zeit länger vor als im Routine-Alltag, das habe ich vom Zeitforscher Marc Wittmann gelernt. Auf der anderen Seite verfliegt die Zeit schneller, wenn es einem gut geht, während sie in unangenehmen Perioden bekanntlich langsam dahin kriecht. Wenn man aber die eigene Zeitwahrnehmung wieder mit der Sonne und den Sternen synchronisiert, scheint mir das vor allem einen Achtsamkeitseffekt hervorzurufen, der laut Wittmann wiederum den Zeitverlauf zu verlangsamen vermag. Zumindest klingt es plausibel, dass die aufmerksame Wahrnehmung desjenigen Naturvorgangs, der all unserer Zeitmessung zugrunde liegt, einen positiven Einfluss auf unsere zeitliche Verwurzelung besitzt.
Das Buch, das mir als Kind als erstes einen vagen Eindruck des merkwürdigen Umgangs der Erwachsenen mit Zeit verschaffte, war das Buch “Momo” von Michael Ende, das in diesem Jahr 50 wird. Obwohl meine Generation vor den “grauen Herren”, die alle Menschen zum Zeitsparen animieren nur um sie ihnen daraufhin von ihren Sparkonten zu klauen, durch dieses Buch hätte gewarnt sein können, haben wir daraus wenig gelernt — vielleicht weniger als die berüchtigten Millenials, die mit ihrer Zeit heute oft sehr sorgsam und geizig umgehen, auch wenn ich gar nicht weiß, inwiefern diese Sorgsamkeit auch wirklich funktioniert.
Die Hauptfigur jedenfalls, das kleine Mädchen Momo, ist in dem Buch die einzige, der die grauen Herren ihre Zeit nicht wegnehmen können. Warum das so ist, war offenbar ein binnenlogisches Problem, an dem Michael Ende eine ganze Weile zu grübeln hatte, so berichtet es an diesem Wochenende meine Kollegin Julia Voss in einem Artikel im Feuilleton der F.A.S. Die Lösung lag schließlich in der Einsicht, dass Momo die Zeit einfach hat, indem sie lebt. Und darin, dass Zeit für sie entsprechend nicht etwas ist “was man vergeben, sparen, beschleunigen oder sammeln kann”, wie Endes Literaturagent Roman Hocke in dem Artikel berichtet.
Vielleicht ist es genau diese Einsicht, die auch der Lauf der Sonne nahelegt, wenn wir ihn so beobachten, wie Menschen es über die Jahrtausende hinweg schon immer getan haben. Wenn wir so unseren irdischen Zeitrhythmus einbetten in die großen kosmischen Abläufe in unserem Sonnensystem, erscheint die Idee, etwas sparen oder beschleunigen zu wollen, vielleicht deutlich weniger natürlich als im städtischen Alltag. Jedenfalls ist das etwas, das ich in diesem Jahr aus dem Urlaub mitgenommen habe, und das ich hoffentlich nicht sofort wieder verlieren werde: Den alltäglichen Kontakt zur Sonne mit all seinen Implikationen.
Sibylle Anderl, Montagsblock /237
04. September 2023