Wenn wir uns einen Reim auf die Welt machen wollen, scannen wir sie nach Motiven von Handlungen ab. Das Meiste geschieht ja irgendwie von selbst. Der Alltag ist voll von fast automatisch ablaufenden Dingen – eine Semmel kaufen, die Frage nach dem Mittagessen klären, die Preise im Supermarkt checken, einen Kaffee machen, eine Hose anziehen oder seine Notdurft verrichten. Das geschieht, wie es geschieht, meist im Modus „dumpfer Gewöhnung“, wie Max Weber das einmal ausgedrückt hat. Sobald wir aber gefragt werden, warum wir dies oder jenes so oder anders tun, fallen uns Gründe ein, die wie Motive wirken. Wir sind gewohnt, im Straßenverkehr auf dem Fahrrad oder im Automobil rechts aneinander vorbeizufahren. Es passiert ohne besondere Beteiligung bewusster Vorstellungen. Aber wenn wir gefragt werden, warum wir rechts am Anderen vorbeifahren, können wir es genau erklären: „Wenn alle rechts aneinander vorbeifahren, sinkt die Gefahr von Kollisionen. Und aufgrund der Reziprozität von Perspektiven ist das ‚Rechts‘, das mein entgegenkommender Verkehrsteilnehmer wählt, nicht dasselbe wie mein ‚Rechts‘.“
So ähnlich wird man dies begründen – und kann sich dann unterschiedliche Motive unterstellen: Ach, deswegen machen wir das! Übrigens: Wer einmal in UK mit dem Auto gefahren ist, wird anfangs sehr genau nachdenken, warum er was in welcher Situation tut, etwa, wenn abgebogen, wenn Vorfahrt gewährt wird oder die Frage auftaucht, von wo die Gefahr droht. Die Beteiligung von konzentrierter Bewusstheit und motivierter Intentionalität ist dann lebenswichtig!
Motive sind ein schönes kommunikatives Genre – sie präsentieren ihre Akteure und machen sie verstehbar. Sie reagieren auf eine Uneindeutigkeit, indem sie Eindeutigkeit herstellen wollen, bleiben aber uneindeutig, weil man Motive erstens nicht sehen, zweitens aber immer anders sehen kann. Das gilt auch für unser eigenes Verhalten. Wenn wir uns fragen, warum wir dies oder jenes getan haben, was also das Motiv dahinter war, stoßen wir selbst auf eine Offenheit – die man dadurch schließen kann, dass man an dem Motiv festhält, das sich einmal bewährt hat. Wir müssen an die Motive glauben, die sich bewährt haben.
Soziologisch ist jedoch interessanter, was jenseits der expliziten Motive passiert. Manche streiten sich eher um die unterschiedlichen Begründungen, Rechtfertigungen und propositionalen Gehalte motiverklärender Selbstauskünfte. Viel spannender ist folglich das, was jenseits der Motive geschieht, was gewissermaßen von selbst geschieht und nicht so richtig sichtbar wird. Psychologisch würde man vielleicht an die hübsche psychoanalytische Sentenz denken, wir seien „nicht Herr im eigenen Haus“. Soziologisch denkt man eher an die „dumpfe Gewöhnung“, die unterbrochen wird, wenn man gefragt wird.
Man kann über Motive viel besser streiten als über diese andere Seite. Denn Motive liegen, werden sie mitgeteilt, klar auf dem Tisch, sie haben einen propositionalen Gehalt – und man kann ihnen zustimmen oder sie für problematisch halten. Motive sind in sozialen Situationen jene Unterstellungen, die uns diese merkwürdigen Anderen und unser manchmal noch merkwürdigeres eigenes Selbst beobachtbar machen. Sogar die Motivunterstellung kann zur „dumpfen Gewöhnung“ werden – und man ist erstaunt, wenn Leute etwas getan haben, worauf man sich gar keinen Reim machen kann.
Warum rede ich über Motive? Man kann an der Causa Aiwanger sehr schön ableiten, wie das oben Gesagte funktioniert. Ich will gar nicht zur Sache sprechen, ich will nicht qualifizieren, ob es der Bruder war oder ob dieser nur ein Bauernopfer ist. Noch weniger lohnenswert ist es, sich anzusehen, wer am schnellsten welche Forderungen gestellt hat, was jetzt passieren MUSS, wenn … und so weiter. Oder wer darin eine Kampagne kurz vor der Wahl sieht und beklagt, wie man Schulakten von Jugendlichen in Anspruch nehmen darf. Das Allermeiste ist das übliche Rauschen, „dumpfe Gewöhnung“ at its best – und es ist doch erleichternd, dass man so ganz gut über die alltäglichen Krisen hinwegkommt. Und ob Aiwanger darüber stürzt oder nicht – who cares? Auch dies wäre für die einen das Symbol für wenigstens eine kleine Gerechtigkeit, für die anderen wiederum die größte Ungerechtigkeit. Es soll ja eine neue Hufeisenpartei gegründet werden, da wird’s vielleicht eine Zweitverwertung geben. Jemand wie Aiwanger ist nur in Amt und Würden, weil die CSU zu bequem ist, etwas Interessanteres auszuprobieren und sich stattdessen Leute hält, die es ihnen leichter machen (politisch übrigens völlig legitim!).
Nein, viel interessanter ist Aiwangers Statement, in dem er ankündigt, dass sein Bruder der Übeltäter ist. Ein Statement ist übrigens eine Textsorte, bei der man sich etwas denkt und die Motive sichtbar machen will – ganz unabhängig, ob diese wirklich vorhanden sind – auch eingedenk des Zweifels, ob sie tatsächlich so positiv vorliegen können, wie man das immer glaubt.
Damit zurück zum Statement. Man kann schön nachverfolgen, wie ein hübsches Motivbündel gebunden wird: Man bekommt eine Erklärung, dass man das Ganze „menschenverachtend“ findet usw. Was soll man sonst sagen? Man bekommt glaubhaft versichert: „Ich war‘s nicht.“ Und man integriert es in eine alltags- und binnenmoralische hübsche Form , man „verpfeife“ niemanden. Am Ende schüttet man den ganzen Dreck damit zu, dass dem Bruder noch ein nachvollziehbares Motiv unterstellt wird: er ist sitzengeblieben und war wütend. Was bin ich froh, dass ich meine Gelsenkirchener Hochschulzugangsberechtigung innerhalb der vorgesehenen 13 Schuljahre erreicht habe!
Es geht nicht darum, was jemand mit 17 Jahren gemacht hat. Man sollte nicht über den Rest des Lebens den Stab brechen. Aber es geht darum, wie man Motive aufreiht, um sich zu erklären – und wie jenseits der präsentierten Motive ganz andere Fragen gar keine Rolle spielen. Die Autoren des Statements können sich gar nicht vorstellen, dass es eine interessante Frage sein könnte, warum es völlig normal und erwartbar ist, so etwas Widerwärtiges wie dieses Papier mit sich herumzutragen, wie man sich in einer sozialisatorischen Umgebung bewegt, die Wut und Ärger (die man als sitzengebliebener Schüler legitimerweise haben kann) auf so etwas lenkt. Das muss ja irgendwoher kommen.
Aiwanger hätte seine Haut wahrscheinlich retten können, wenn er dazu etwas gesagt hätte. Hat er aber nicht. Es kam in der „dumpfen Gewöhnung“ nicht einmal vor, dass man dazu etwas sagen könnte, weil man offensichtlich so tief in einer Selbstverständlichkeit steckt, dass einem das nicht einmal dann einfällt, wenn man in einem „Statement“ Motive konstruieren kann, wie ein Romancier seine Figuren gestaltet. Interessant ist also, was in den Motiven und ihren Konstruktionen nicht einmal als Möglichkeit auftaucht.
Ich habe oben gesagt, das Interessantere sei das, was von selbst passiere. Der Umgang mit der ganzen Sache zeigt, wie tief verwurzelt die Möglichkeit solchen Drecks in den erwartbaren Strukturen dieses Milieus sein muss. Diese Leute sind nicht einmal in der Lage, so viel Grips zu mobilisieren, dass sie stimmige Fake-Motive zu konstruieren in der Lage wären. Stattdessen nur ein trotziges „Ich-war‘s-nicht“.
Wie unbeholfen diese Leute selbst dann damit umgehen, wenn sie die Möglichkeit haben, eine stimmige Geschichte zu erfinden, liegt in der Sentenz, dass der stellvertretende bayerische Ministerpräsident sagt, er distanziere sich „auch nach 35 Jahren vollends von dem Papier“ – darauf hat auch Alan Posener gestern auf ZEIT-online hingewiesen. Die Distanzierung ist offensichtlich nicht einmal in dem Statement, einer wohldurchdachten Textsorte, mehr als die semantische „dumpfe Gewöhnung“ von Leuten, die selbst in Situationen der Einklammerung dumpfer Gewöhnung auf ebendiese hereinfallen. Sie haben es nicht einmal geschafft, es wenigstens so aussehen zu lassen, dass es eine Diskontinuität zwischen damals und heute gibt – und zwar mit allem, was nicht in das Motivbündel aufgenommen wurde. Alan Posener meint, damit hätten sie es noch schlimmer gemacht – und damit hat er recht. Das Schlimmste aber ist, dass diese Möglichkeit in deren Überlegungen nicht einmal vorkommt. Das ist viel bedrohlicher als ein ekelhaftes Dreckspapier von vor 35 Jahren.
Tiefer kann man sich nicht in jene Verstrickungen begeben, die man eigentlich beseitigen wollte. Das wirft ein Licht auf die Kompetenz dieser Leute – und obwohl mit dem Bruder die Argumentation der Süddeutschen Zeitung einen ziemlichen Dämpfer erfährt, sind die in jenem Artikel rekonstruierten Kontinuitäten deutlicher, als es auch den Kritikern dieser Sache lieb sein kann. Einen Triumph bei der Entlarvung kann ich jedenfalls nicht empfinden.
Es geht mir hier nicht um Hubert Aiwanger – sondern um die Erkenntnis, wie erwartbar Verhalten ist, wie wenig Handeln meist von jenen selbstdistanzierten rationalen Gründen bestimmt wird, die wir gerne in akademischen, vor allem rationalistischen Handlungsmodellen zugrunde legen, wie wenig Argumente zählen, wenn man tut, was man tut. Als (in die Jahre gekommener) Soziologe komme ich immer mehr zu der Erkenntnis, wie eigendynamisch, wie selbstreferentiell, wie träge und wie selbstgenügsam soziale Prozesse und ihre Kontinuitäten sind – und wie wenig diese sich von unseren Motiven beeindrucken lassen. Kompetenz würde heißen, damit angemessener umzugehen. Ob Aiwanger im Amt bleiben kann, ist an der ganzen Geschichte das unwichtigste Detail – eher, dass diese Art von Inkompetenz es in Regierungsämter schafft. (Und man kann sich schon die quasi-natürlichen Reaktionen darauf ausmalen: aber Habeck, aber Baerbock, aber Scholz, so ist das nun mal.)
Zugegeben, sollte sich die brüderliche Lösung als Lösung etablieren, könnte ein Solidarisierungseffekt entstehen. Damit hätten diese Leute alles richtig gemacht. Aber das gehört eben auch zu den trägen Zugzwängen einer Welt, die erwartbarer reagiert, als es eigentlich zu ertragen ist. Zu dieser Trägheit gehört übrigens, wie kontinuierlich sich jene Chiffren und Motive halten, die in diesem unsäglichen Papier vorkommen, heute nur auf technisch höherem Niveau.
Armin Nassehi, Montagsblock /236
28. August 2023