Montagsblock /235

Deutschland. Ein Drehbuch.

Folge 4089: Gespensterdämmerung

 

Akteure

Wirtschaftsminister

Familienministerin

Grüne Finanzsprecherin

Bundeskanzler

Englischer Drittwegssoziologe

Heimatpolitiker

AfDler 

Ausgangsblende

Koalitionskrise. Toxisches Misstrauen. Blockade des „Wachstumschancengesetz“. Der Wirtschaftsminister fordert Wachstum für Deutschland. Die Bundesfamilienministerin blockiert, will mehr Geld für die Kindergrundsicherung. „Leitungsvorbehalt“. Stillstand. 33 Grad im Schatten, wir schwitzen wie die Ratten. Ampel-Gelb sagt: Nur starkes wirtschaftliches Fundament ermöglicht den Sozialstaat. Ampel-Grün will sich nochmal intern beraten, will aber „aus tiefstem Herzen, dass dieses Land Industrieland bleibt“. Der Bundeskanzler glaubt, dass nach dem Urlaub alles besser werde. Weitere Politiker und Medien beginnen, die jeweiligen Gerechtigkeitskonstruktionen als Reflexe und reflexive Zustimmungsräume in Stellung zu bringen. In diesen Turbulenzen bilden sich stabile bis paradoxe Meinungskoalitionen. Unterdessen schwächelt die Wirtschaft vor sich hin, der Krieg zermürbt die Gemüter und die Rechtsextremen träumen von Tumulten. Die große Parade lebloser Gespenster. Ready to act.

Tiefenbohrung

Markt und Sozialstaat. Die ewigen Gegenspieler. Unversöhnliche Gerechtigkeitssemantiken, die das bipolare Denken und Sprechen über Sozialstaat und Markt prägen. Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit stehen sich gegenüber. Während Verteilungsgerechtigkeit davon ausgeht, einen staatlich organisierten und gelenkten Ausgleich sowie Kompensierung für die ungerechte Verteilung unterschiedlicher Ressourcen, Chancen und Fähigkeiten in der Gesellschaft zu schaffen, will die Leistungsgerechtigkeit geradezu das Gegenteil, nämlich die freie Entfaltung und marktkompatible Anerkennung individueller Leistungsperformance. Sozialstaat und Markt als Begriffsreservoire stehen sich als eigenlogische Gerechtigkeitsformationen von Verteilung und Leistung ebenso widersprüchlich gegenüber. Das sozialstaatliche Menschenbild fußt auf der Annahme, der einzelne Mensch sei schwach und müsse bei Bedarf lebenslang unterstützt werden. Das marktgemäße Menschenbild wiederum kennt nur starke, leistungsbereite Optimierer, die sich lebenslang selbst am besten zu unterstützen wissen.

Die fehlende Verbindung zwischen diesen semantischen Vorratslagern hat zwei anschlusskommunikative Folgen für die moderne Gesellschaft: 1. Sozialstaat und Markt schotten sich gerechtigkeitstheoretisch voneinander ab und versuchen mit hegemonialen Diskursstrategien ihre jeweilige Gerechtigkeitssemantik durchzusetzen. Konsequenz: Der Sozialstaat schützt sich vor dem Markt, der Markt hält sich den Sozialstaat vom Leib. Paus blockiert Lindner. Lindner blockiert den Rest. 2. Sozialstaat und Markt suchen über normativ-moralische Pfade nach Versöhnungs- und Kooperationsarchitekturen. Konsequenz: Der Sozialstaat fördert nicht mehr nur, sondern fordert jetzt. Der Markt will die Schwachen und Armen leistungsfähiger machen. Aus der visionären Vergangenheit ruft ein Drittwegssoziologe den aktivierenden Sozialstaat aus. Die Bürger sollen sich stärker selbst versorgen, als vom Staat aktiv versorgt werden. Der dritte Weg: „Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.“ Der Sozialstaatsbegriff wird mit dem Begriff der Eigenverantwortung vom Kopf auf die Beine gestellt. Der Bürger wird jetzt zum Manager seiner selbst, zum selbstverantwortlichen Konstrukteur seiner Lebensplanung. „In der Lage zu sein, ‚anders zu handeln’, bedeutet, fähig zu sein, in die Welt einzugreifen beziehungsweise einen solchen Eingriff zu unterlassen mit der Folge, einen spezifischen Prozess oder Zustand zu beeinflussen.“ Zweiter Romantikpfad: Wir investieren feste druff in Markt und Sozialstaat, gleichermaßen. Geht schon irgendwie gut, die Amis machen es auch? Die Grünsprecherin nochmal: „Wir machen uns für #Investitionen in die Wirtschaft und die Infrastruktur & das Gemeinwohl stark, damit Deutschland und die Demokratie erfolgreich bleiben.“ Klingt nach: Wo liegt das Problem? Markt und Sozialstaat einfach ordentlich hochpampern, damit aus Konkurrenz mehr Kooperation und die Wirtschaft sanft in die Gesellschaft integriert werden kann. Der Widerspruch einer solidarischen Leistungsgesellschaft winkt vom Horizont, in der man mehr „kooperativ konkurrieren“ kann. Und eins, zwei, drei, wird der Markt und seine Probleme immer kleiner. Ein kanadischer Zukunftsforscher träumt bereits: „Stellen Sie sich auf eine kleinere Welt ein! Schon bald werden Ihre Lebensmittel von einem Acker in Ihrer Nähe kommen, und die Dinge, die Sie kaufen, werden eher von einer Fabrik in Ihrem Heimatort produziert als am anderen Ende der Welt.“

Neue Homogenität beruhigt die Gemüter, errichtet aber gleichzeitig Zäune. Kleine Welt braucht keine Globalisierung mehr. Die rechten Zündler wittern Brandbeschleunigung. „Um gesellschaftliche Unruhe zu vermeiden, muss man den Einheimischen in Zeiten hoher Einwanderung ausdrücklich zusichern, dass ihnen durch die Neuankömmlinge kein Nachteil entsteht.“ Das 20-Prozent-Volk bezieht Stellung. Wir sind Antiglobalisierung. Die Folge: Der kleine Mann reklamiert weiter sozialstaatliche Versorgung, will aber keine Konkurrenten neben sich haben. Der Sozialstaat soll seine Pforten nur für die Richtigen öffnen. In der kleinen, deutschen Welt. Denn ein deutscher Rentner dürfe vom Staat nicht weniger bekommen, als ein jugendlicher Flüchtling den Staat koste. Harte Landung.

Abspann

Dem Volke wird‘s mulmig. Alle Wege landen mitten in der Petersilie. Versöhnungsversuche zwischen Solidarität und Wettbewerb laufen ins Leere, Sozialstaat und Markt werden von der Rechten gekapert. Kein Ausweg. Nirgends. Oder doch?

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Peter Felixberger, Montagsblock /235

21. August 2023