Montagsblock /234

Das Böse wird gerne wegrationalisiert – als medizinische oder soziopathische Störung, als Abweichung, die Pathologisierung entlastet letztlich von der Existenz des Bösen als einer eigenständigen Kategorie. Sie muss Abweichung sein – spätestens seit man Handeln Personen zurechnet und nicht einem Fatum oder anderen Kräften und vor allem seit Strafe immer weniger Sühnefunktion hat. Und doch geht eine wichtige Kategorie verloren, wenn man das Böse ganz aus den Augen verliert – wohlgemerkt nicht die böse Tat, sondern das Böse als Kategorie.

Das Böse ist theologisch interessant, denn wenn Gott der allmächtige Schöpfer von allem ist, muss er auch das Böse erschaffen haben, das ja empirisch durchaus vorkommt. Die vielleicht genialste Rationalisierung des Bösen ist die Theodizeefrage: Wie kann Gott all das Böse und all das Leid zulassen, ist er doch ein allmächtiger Schöpfer? Die Lösung der Theodizee lautet, dass das Böse als Prüfung zu verstehen ist, als Prüfung für einen frei erschaffenen Menschen, der das Böse tun, die Sünde begehen können muss, damit ihm sein gottesfürchtiges Leben überhaupt zugerechnet werden kann – denn wäre er nicht zum Bösen fähig, hätte das Gute keinen Informationswert. Schlecht geht die Sache für den Teufel aus, denn er schrumpft letztlich zu einer Art pädagogischer Unterscheidung, die es Gott, seinem Schöpfer, ermöglicht, das ganz Andere zu bezeichnen, um das Gute so kontingent zu setzen, dass es eine Eigenleistung des armen Sünders werden kann. Das ist eine noch bessere Rationalisierung des Bösen als seine Pathologisierung, die das Böse nicht integrieren kann – auch wenn das Wahnsinnige durchaus auch dazu dienen kann, die Normalität zu normalisieren, wie wir spätestens seit Foucault wissen.

Der geneigte Leser, die noch geneigtere Leserin wird sich fragen, was dieser Exkurs ins Böse eigentlich soll – der Anlass ist einfach. Ich bin an diesem Wochenende auf zwei Dinge gestoßen, zu denen mir nur die Kategorie des Bösen einfällt, um damit umgehen zu können. Das eine ist ein Interview, das Björn Höcke dem MDR gegeben hat, das andere ist ein Tweet (heißt das noch so?) der Schweizer Weltwoche. Beides kann man nur mit der Kategorie des Bösen erklären.

Höcke wurde von einem peinlich unterwürfigen, servilen Journalisten des öffentlich-rechtlichen (sic!) MDR interviewt. Da ging es unter anderem um die Inklusion von behinderten Kindern in Regelschulen, was er mit der Begründung ablehnte, dass das die Leistungsfähigkeit der Schulen senke und am Ende so der Fachkräftemangel nicht beseitigt werden könne. Nun gibt es tatsächlich einen kontroversen Diskurs darüber, ob Kinder mit Behinderung (ein weiter Begriff!) in jedem Falle in einer Regelschule besser aufgehoben sind. Aber darum ging es nicht. Was Höcke wirklich meisterhaft beherrscht, ist die gekonnte Andeutung, die es kaum erlaubt, ihm jene faschistischen Anklänge auch wirklich nachzuweisen, denn der Wortlaut kommt geradezu unverdächtig daher – nicht freilich, wenn man genau hinhört. Dass Höcke mit dem Unwerten spielt, auch wenn er es nicht sagt und er vor jedem Gericht der Welt recht bekäme, würde man es ihm unterstellen, ist – neidlos anzuerkennen – hohe Schule. Ich würde sagen: hohe Schule der Bosheit. Natürlich interessiert sich Höcke nicht für behinderte Kinder, aber er spielt auf der Klaviatur des Unmenschen mit den Mitteln einfühlsamer Menschlichkeit. Ich habe das auf Twitter moniert – und es war wirklich sehr interessant, wer sich alles missverstanden fühlte, denn Höcke sei wenigstens jemand, der sich kümmere.

Das ist eine effektive Strategie der AfD – und Höcke kann es am besten. Seine Perfidie besteht darin, kunstvoll mit kleinen Setzungen und Andeutungen die Kategorien des Faschistischen zu bedienen, ohne sie direkt ansprechen zu müssen – offensichtlich sehr wirksam. Getriggert werden die Leute durch das Thema.

Das ist klug – und böse. An Höcke kann man sehen, was passieren würde, wären die AfD-Leute nicht mehrheitlich so „kognitiv herausgefordert“, wie sie es zum größten Teil sind. Für ihn gilt das nicht. Er weiß, was er tut, ziemlich genau sogar – und das ist es auch, was das Böse ausmacht. Böse ist nicht alles, was nicht gut ist. Kant hat es besonders schön definiert: Bosheit liegt dann vor, wenn jemand „das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime“ aufnimmt. Das Böse wäre dann nicht einfach eine Abweichung vom wünschenswert Guten, keine Laune oder so etwas, sondern eine Kategorie sui generis, die als Böses auftaucht – und womöglich eine gewisse Reflexivität voraussetzt, zumindest wenn man Kants Bestimmung ernst nimmt. Höcke ist nicht die andere Seite Gottes, die von diesem in der Theodizee als Mittel zum guten Zweck erscheint, sondern er spielt schlicht auf dem Register des Bösen, das das Böse als Böses will. Auf den Willen kommt es offenbar an.

Das führt zum zweiten Beispiel – auch hier spielt Twitter-X eine Rolle. Die Schweizer Weltwoche hat ein kleines Video gepostet, auf dem junge Leute in offenkundig gelassener Atmosphäre in Ausgehkleidung über eine Straße flanieren. Die Szene spielt angeblich im ukrainischen Lwiw (Lemberg). Der kommentierende Text lautet: „Das Wochenende in der Ukraine: Die Aufnahmen lassen jedenfalls nicht den Eindruck von Krieg entstehen.“

Was die Weltwoche ist, wissen wir – der Herausgeber ist ein Kreml-treuer Schweizer Journalist, für den Grenzüberschreitungen zum Geschäftsmodell gehören. Die Weltwoche ist ein Blatt, in dem auch Deutsche etwa Interviews publizieren, deren Bullshit in Deutschland in keiner Qualitätszeitung möglich wäre. Anders als im Falle Höcke wird hier nicht mit Andeutungen gearbeitet, sondern viel direkter. Aber auch hier muss man sagen, ist das Böse als solches Teil der Maxime des Handelns. Es hat nichts von der subtilen Funktion des Satans, der bekanntlich stets das Böse will und am Ende aufgrund seiner Genese das Gute schafft. Dies hier ist schlicht Böse , weil es genau das in die Maxime der Operation eingebaut hat. Und es ginge etwas verloren, wenn diese Kategorie nicht zur Verfügung stehen würde. Die einzig denkbare Reaktion darauf ist bürgerliche Verachtung. Alles andere verbietet sich.

Man soll den politischen Gegner nicht pathologisieren – einerseits weil es eine unheilvolle Tradition hat (gerade übrigens beim Vorgänger des heutigen Russlands), andererseits weil man dem Gegner in diesen Fällen damit womöglich auch zu sehr entgegenkommt. Wer krank ist, kann nicht anders. Wer böse ist, könnte es. Insofern hat die Kategorie des Bösen durchaus eine positive Funktion, der man vielleicht eingehender nachgehen sollte.

Armin Nassehi, Montagsblock /234

14. August 2023