Montagsblock /233

Das Geräusch von Regen auf dem Holzdach. Leise und anhaltend, manchmal auch gewaltig prasselnd und rauschend. Wie aus dem Nichts, als säße man unter einem Wasserfall, der nur langsam schwächer wird, dann aber plötzlich versiegt. Immer neue Variationen der Regen-Crescendi und -Decrescendi. Und schließlich ist es nur noch der Wind, der mit jeder Böe Tropfen aus den Bäumen rüttelt, die einzeln auf die Dachpappe fallen. Danach das leise Pochen eines Vogels — einer Meise vielleicht? —, der Insekten von der Fassade pickt. Manchmal auch das hektische Trippeln eines Eichhörnchens auf dem Weg über das Dach von einem Baum zum anderen. Das mit dem schwarzen buschigen Schwanz? Oder das mit dem rotbraunen, merkwürdig ausgedünnten, das damit wedeln kann wie ein Hund, wenn es aufgeregt zu sein scheint? Oder vielleicht noch ein anderes, das sich bisher verstecken konnte, weil es derzeit so ein ausgesprochener Drinnen-Sommer ist, dass man sich gar nicht erst raussetzt, weil man sowieso gleich beim nächsten Schauer wieder alles reinräumen müsste?

Zecken gibt es besonders viele diesen Sommer, sagen die Nachbarn. Kleine schwarze und die größeren mit einem roten Rand und kringeligen Beinen. Die aus dem Süden eingewanderten, die das Krim-Kongo-Fieber übertragen, wurden offenbar noch nicht gesehen. Wozu sind Zecken eigentlich gut? Wozu sind Menschen gut, erwidert die Nachbarstochter. Vielleicht, um Zecken zu ernähren? Aber Zecken?

Dem einzigen Nutzen, der mir für Zecken einfällt, bin ich vor vielen Jahren in der Philosophie des Geistes begegnet. Da waren sie unter dem Titel der “monorepräsentationalen Parasiten” Beispieltiere, um zu erklären, wie Erfahrungsqualitäten — sogenannte Qualia — funktionieren. Zu lesen war das beim amerikanischen Philosophen Fred Dretske. Der hat versucht, den menschlichen Geist naturalistisch, also auf der Grundlage der Naturwissenschaften zu erklären. Die Eigenschaft mentaler Zustände, die sich gegen so eine nüchtern naturwissenschaftliche Erklärung am meisten zu sträuben scheint, sind die phänomenalen Erfahrungsqualitäten: Wie es sich anfühlt, eine rote Tomate zu sehen, einen guten Bordeaux zu trinken, eine zu heiße Kaffeetasse in der Hand zu halten. Diese Erfahrungsqualitäten erscheinen streng subjektiv. Ich weiß nur, wie der Bordeaux für mich schmeckt, nicht für mein Gegenüber. Vielleicht schmeckt er für den Mittrinkenden viel saurer als für mich? Im Prinzip könnte man sich sogar ein invertiertes Erfahrungsspektrum vorstellen: Dass für mich alle Weißweine wie Rotweine schmecken und umgekehrt, mir ist es nur nie aufgefallen – wie auch?

So eine radikale Subjektivität kennen wir aus den möglichst objektiv operierenden Naturwissenschaften sonst nicht, und mit allem Qualitativen tun wir uns dort ebenfalls schwer. Für diejenigen, die das Mentale zu etwas Besonderem, zu etwas jenseits der Naturwissenschaften zu Erklärendes machen wollen, sind Qualia daher ein beliebtes Thema. Wenn Fred Dretske nun versucht, den menschlichen Geist zu naturalisieren, nutzt er dafür im Wesentlichen zwei Zutaten: Information und Funktion. Information braucht man, um mentale Zustände mit Inhalt zu füllen, und biologische Funktionen braucht man, um diesen Inhalt einzugrenzen. Was bestimmte neuronale Zustände bedeuten, ist damit unter anderem dadurch bestimmt, was sie anzeigen sollen. Fred Dretske nutzt in seinen Argumentationen, insbesondere in seinem Spätwerk, gerne Messinstrumente zur Veranschaulichung mentaler Zusammenhänge — oder sehr einfache Organismen. Und da sind wir dann wieder bei den Zecken.

Die verlassen sich auf Beutesuche auf die Körpertemperatur ihrer potentiellen Opfer, und laut Dretske ist dafür das Kriterium, ob etwas 18 Grad warm ist. Wenn etwas in ihrer Umgebung durch ihren Wärmesinn derart repräsentiert wird, stürzen sie sich auf dieses etwas. Und wenn man sich nun in Analogie zu einem bekannten Gedankenexperiment von Thomas Nagel fragt, wie es sich anfühlt, eine Zecke zu sein, ist Dretskes Antwort: Dafür muss man nur wissen, was es heißt, eine Temperatur von 18 Grad zu haben. Denn nichts anderes ist der Erfahrungsinhalt der Zecke.

Ich weiß noch, wie ich dieses Argument damals als Studentin gelesen habe, und mich aufregte, was für eine bizarre Vermischung verschiedener Ebenen hier vorliegt: Warum soll ich aus meinem Wissen, was es heißt eine Temperatur von 18 Grad zu haben, darauf schließen können, wie es sich für eine Zecke anfühlt ein Wirtstier im Fokus zu haben? Der entsprechende Text (Seite 89ff. in “Naturalisierung des Geistes”) ist mit einigen Fragezeichen und empörten Kommentaren meines damaligen Ichs gespickt (und ich kann mich durchaus noch erinnern, wie es sich anfühlte, die Mitte-20-jährige Version meiner Selbst bei Lesen dieses Textes zu sein). Interessanterweise fand ich ihn vergangene Woche in der zeckenumlagerten Holzhütte. Heute muss ich allerdings sagen: Angesichts der Fruchtlosigkeit der gesamten Qualia-Diskussion habe ich mittlerweile eine gewisse Sympathie für diese schnörkellos abmoderierende Argumentation Dretskes. Vielleicht sind die subjektiven Erfahrungsqualitäten ja doch weniger mysteriös, als wir gerne glauben würden.

Meine Sympathie für Zecken hält sich nach dieser Woche und wiederholten Begegnungen ohnehin sehr in Grenzen. Zumal meine abermalige Lektüre Dretskes mich auch noch in meiner Erinnerung korrigierte, dass Zecken als philosophische Beispieltiere nützlich sind. Denn in einer Fußnote zum Zeckenbeispiel gibt Dretske zu, dass seine monorepräsentationalen Parasiten nicht einmal vernünftig durch Zecken realisiert werden. Die repräsentieren nämlich nicht nur Wärme, sondern auch diffuses Licht und den Geruch von Buttersäure. Die Frage nach deren Nutzen bleibt also weiterhin offen.

Sibylle Anderl, Montagsblock /233

07. August 2023