Am 2. September erscheint das Kursbuch „Soziale Konfliktzonen“. Hier ein Auszug aus meiner FLXX-Kolumne zum Anwärmen. Der gesamte Essay hat den Titel „Warum widerstehen? Konfliktarbeit in Zeiten von Unordnung und Verwirrung“.
… Aktueller Rundblick: Der deutsche Bahnangestellte will einfach nur mehr Geld, mehr Urlaub und seine Ruhe. Der Rechtsradikale verrührt sein So-sein mit Elitenkritik („die da oben, wir da unten“) sowie einer Prise Staats- und Demokratiefeindlichkeit und einem Spritzer Einfach-gegen-Alles-sein. Der französische Postmigrant pflegt eine grundsätzliche Staatsfeindlichkeit im Ghetto der Alleingelassenen und stößt das Tor zur Anarchie auf, wenn der Staat toxisch gewalttätig wird. Auf der Heizungsdemo kollaborieren Spitzenpolitiker mit Spitzenidioten und reklamieren die letzte Wahrheit im Untergangsbingo für sich. AfD-Wähler können als Brüder und Schwester dem Geiste ihrer menschenverachtenden Fremdenfeindlichkeit frönen und vom großen Aufstand, zumindest von gramsciesken Tumulten träumen. Weltuntergang ist sowieso immer, wie asphaltklebende Klimaaktivisten gerade dem Rest der Welt nimmermüde zurufen.
Kein Wunder, dass sich vor allem in linken Zirkeln ein Gefühl der Unwirksamkeit breitmacht. Bernard-Henri Lévy etwa ist enttäuscht darüber, „was aus der Tradition der Volks- und Arbeiteraufstände geworden ist“. Er kritisiert die gegenwärtigen Aufstände, sie seien „ohne politisches Projekt, ohne Ziel“ und sehnt sich zurück zu „den Barrikaden der misérables, den ‚fusionierenden Gruppen‘ eines Jean-Paul Sartre oder dem ‚klangvollen und schönen Wind‘, der 1927 bei der großen antifaschistischen Demonstration in Wien wehte“.
Sterbende Romantik eines alternden Starphilosophen. Es gibt indes kein vollständiges Zurück mehr in das Zeitalter der Dialektik mit aufklärerischen Synthesetunneln ins Licht. Die Perspektivenvielfalt der modernen Gesellschaft erzeugt Ablenkung, Überforderung und sucht vielerorts nur die Ausgrenzung des Andersdenkenden. Gleichzeitig stabilisiert sie weiterhin das soziale Zeitgespräch: „Um Geltungsansprüche beurteilen zu können, brauchen Menschen eine Vielzahl von Perspektiven auf dieselben Sachverhalte, um zu begründeten Schlussfolgerungen darüber zu gelangen, was sie tatsächlich wissen und tun sollten,“ schreibt der Philosoph Markus Gabriel in seinem neuen Buch Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung. Und die Literaturwissenschaftlerin Angela Steidele beruhigt die Gemüter: „Wir kommen doch aus einer Zeit des Lichts. Die Aufklärung – sie hat ja noch kaum angefangen.“ Aufklärungsromantik vielerorten.
Unumstritten ist indes, egal wieviel Aufklärung man der Gegenwart noch zutraut, dass aus der Perspektivendifferenz zahlreiche anschlusskommunikative Lianen im Mediendschungel sprießen: mit denen man sich beispielsweise in die Echokammern simplifizierter Legitimations- und Gesprächsofferten schwingen kann, dort womöglich bei Entscheidungen mehr aufs Bauchgefühl hören soll oder mit denen man als Hofschranze ungestört dem kapitalistischen Paradies frönen kann. Von den neuen Identitätsankern im rechten Milieu gar nicht zu sprechen.
Die Ära gesellschaftlicher Eindeutigkeiten und Vereinheitlichung ist zu Ende. Das schafft Unübersichtlichkeit und Unvorhersehbarkeit. Was sich durchsetzt, kann im nächsten Moment scheitern. Was scheitert, kann sich im nächsten Moment durchsetzen. Die unterschiedlichen Perspektiven, so argumentiert Armin Nassehi, halten sich dabei in unterschiedlichen Welten auf. Es finde keine Kommunikation der Eindeutigkeit mehr statt, sondern die Perspektiven entkoppeln sich. Die Gesellschaft lasse sich nur als eine Gesellschaft verstehen, „die vor allem mit der Inkommensurabilität ihrer Perspektiven umzugehen gelernt hat“. Dabei werden, so Nassehi, ihre kommunikativen Akte „systemrelativ codiert und indiziert“.
Was wiederum gefährliche Nebenfolgen hat: In ihren Blasen richten sich die Bürger im Gefühl neu erlebter Selbstwirksamkeit ein und klopfen sich selbstaufblähend auf die Brust
Lesen Sie im nächsten Kursbuch weiter, wie die AfD die eigene Verdeppung vorantreibt, Olaf Scholz mit Reinhard Mey so gut im Duett singt und warum das Bartlebysche „Ich möchte lieber nicht“ eine Aktionsfläche der neuen Widerstandskultur ist.
Kursbuch 215 können Sie hier vorbestellen.
Peter Felixberger, Montagsblock /232
31. Juli 2023