Montagsblock /231

Diesmal möchte ich von einer interessanten Begegnung berichten und von einer Dissonanz, die mich seitdem begleitet.

Vor mehreren Tagen war ich bei einer Veranstaltung, die mit einer allgemeinen Fragestellung Leute versammelt hat, die darüber diskutieren wollten, wie man mit den gegenwärtigen Krisen umgehen solle. Ich war dort nur im Publikum, hatte keine aktive Rolle. Es ging natürlich um die Frage, wie man mit den Herausforderungen des Klimawandels umgehen solle, was zu tun sei und warum es nicht gelingt, obwohl wir doch alles wissen. Wie das bei aktuellen Themen ist, folgten die Argumente jenen Drehbüchern, die wir schon genauer kennen. Dass Themen, Denkstile und Denkungsarten sehr stark von der sozialen Lage der Sprecherinnen und Sprecher abhängen – nun, das zu wissen, bedarf es kaum, ein Soziologe zu sein. Es wurden die üblichen verdächtigen Sätze gesagt, dass das Wachstum weg müsse, der Kapitalismus ein Grundproblem darstelle, dass man Verzicht üben müsse, dass man solidarisch zusammenhalten müsse, dass es einen Kultur- und Einstellungswandel braucht usw. Mit zunehmender Diskussion wurden die Argumente immer unbedingter – es entstand eine Mischung aus einem Wohlgefühl, Gleichgesinnte zu treffen, und einem Missgefühl, dass die Gesellschaft irgendwie nicht für die Wahrheit erreichbar sei.

Es gab durchaus auch die üblichen kleinen Konfliktlinien – kommt es mehr auf das konkrete Verhalten des einzelnen an oder auf kollektive Regeln? Natürlich reiche es nicht schon, neue Technologien politisch, ökonomisch und wissenschaftlich möglich zu machen. Werden Lösungen, die nicht wirklich weh tun, überhaupt die Kraft haben, uns zu läutern? Ich denke, diese wenigen Hinweise dürften für diejenigen, die all das kennen, genügen, um sich den Abend sehr genau vorstellen zu können – bis in den Habitus der Diskutierenden hinein. All das Gesagte war nicht falsch, aber erreichte letztlich nicht die Betriebstemperatur, sich realistisch vorzustellen, wie die Dinge ins Werk gesetzt werden können. Ich will nicht verraten, was der Anlass der Veranstaltung war, wer sie ausgerichtet hat und wer die handelnden Personen waren – einerseits weil ich gar nicht über konkrete Personen/Organisationen sprechen möchte, andererseits, weil die Sache so musterhaft und erwartbar war, dass Detailinformationen kaum Substantielles, allenfalls Akzidentelles beitragen könnten.

Man war sich sehr einig in der moralischen Verve, aber nur wenig uneinig in der Strategie. Ich habe bis dahin geschwiegen, wollte auch mehr erleben als handeln, ist für mich selten genug. Und es folgte alles erwartbaren Formen, die derzeit überall ähnlich diskutiert werden. Aber dann hat eine Diskutantin in geradezu entzücktem Ton gemeint, wir seien sehr nah an der Lösung – es hatte etwas Eschatologisches. Sie meinte, was sie hoffnungsvoll stimmte, sei die Tatsache, wie zivilisiert und respektvoll wir trotz der radikal unterschiedlichen Vorerfahrungen, Herkünfte und Auffassungen miteinander diskutiert hätten. Das sei doch ein hoffnungsfrohes Modell für die Gesellschaft, wenn sie diese Art von Pluralität aushalten könne. Mir ist der Schreck so richtig in die Glieder gefahren – so sehr, dass ich mein Schweigegelübde aufgeben musste, das mir allenfalls ein leises memento mori erlaubt hätte.

Ich habe – zugegeben etwas ärgerlich – darauf hingewiesen, dass man sich kaum eine sozial homogenere Gruppe vorstellen könne als die, die in diesem Raum versammelt war. Alle dürften eine Hochschulbildung genossen haben (man darf sich als Hochschullehrer fragen, wofür eigentlich), viele mit zusätzlichen akademischen Titeln, das durchschnittliche Einkommen würde ich auf mehr als das Doppelte des deutschen Durchschnittseinkommens schätzen, viele Freiberufler waren im Raum, alle waren sehr geübt in der gepflegten Kommunikation, die ethnische Verteilung hatte einen starken Schwerpunkt auf – in dunkleren Zeiten hätte man gesagt: Kaukasiern, die allermeisten dürften Deutsche oder EU-Bürger gewesen sein, es könnte sein, dass etwas mehr Frauen als Männer im Raum waren, das Alter war eher gesetzt, aber nicht alt. Ich dürfte den Altersdurchschnitt durchaus leicht angehoben haben.

Ich habe darauf hingewiesen und eher (weitgehend still gebliebenes) Unverständnis geerntet. Was mich an solchen Runden ziemlich nervt, ist nicht die sozialstrukturelle Zusammensetzung – die war durch den Veranstalter usw. ziemlich unvermeidbar. Aber wie wenig Bewusstsein dafür herrschte, wie exklusiv diese Gruppe war. Plural oder gar pluralistisch war sie nicht.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Homogenität ist nichts an sich Kritikwürdiges, und der Vorwurf der Homogenität sozialer Gruppen kommt oft aus ihrerseits ziemlich homogenen Gruppen, die sich im Spiegel der anderen gerne verkennen. Wir bewegen uns zumeist in vergleichsweise homogenen settings. Merkwürdig ist nur, wie naiv hier mit der eigenen sozialen Lage umgegangen wurde, wie sehr man sich fürs Ganze hielt und wie sehr hier deutlich wurde, wie wenig man sich in andere Milieus, aber auch in andere Bereiche der Gesellschaft hineindenken kann, etwa politische oder ökonomische. Mein Redebeitrag hat jedenfalls nicht weiter verunsichert, die Diskussion ging genauso weiter – zumeist steigt die gegenseitige Bestätigung der eigenen moralischen Wohlgenährtheit mit der Zeit. Und letztlich fügte sich eigentlich alles jenem Drehbuch, das niemand kennt, das aber alle ziemlich genau beherrschen. Es fielen Sätze des Typs „Wir brauchen eine Kultur des …“, „wir müssen ein Bewusstein haben für ….“ und so weiter. Was man eben so folgenlos sagt, um sich selbst zu beruhigen.

Aber: Die Geschichte beginnt erst jetzt. Eine der Protagonistinnen des Abends – es war ein Diskussionsabend mit drei geladenen Diskutantinnen unterschiedlicher, aber darin ähnlicher Provenienz – hat, wohl um die Sache praxisrelevanter zu machen und pluraler zu gestalten, zwei junge Männer mitgebracht, die als Mitglieder der Last Generation vorgestellt wurden und nach ihren Motiven befragt wurden. Ich gebe zu, dass ich dieser Gruppe sehr skeptisch gegenüberstehe und es mir nicht reicht, das hehre Anliegen gegen die entsprechenden Protestformen und Nötigungen, gegen die geradezu eschatologische Unbedingtheit und die Chuzpe abzuwägen, mit der diese Leute sich das Recht nehmen, andere in ihrem Alltag massiv zu stören. Ich bin nicht der Auffassung, dass der Zweck stets die Mittel heiligt – und ich bezweifle strikt, dass diese Protestform der Sache selbst irgendetwas nützt. Sie ist eher Wasser auf den Mühlen derer, die dieses ganze Klimazeugs für ein „Gschiss“ halten, wie man in München sagen würde. Aber auch darum soll es hier nicht gehen. Man kann darüber kontrovers diskutieren, und ich akzeptiere, dass man das auch anders sehen kann, auch wenn es mir schwerfällt.

Aber auch darum soll es nicht gehen. Die beiden jungen Männer – gar nicht mehr so ganz jung, ich würde sie auf etwa 30-40 schätzen – wurden befragt, begeistert befragt, und beide haben zunächst Antworten gegeben, die vor allem von Authentizitätsmitteilungen gelebt haben. Beide haben ihre Motive so begründet, dass sie endlich etwas tun wollten. Es ging um sie selbst, gewissermaßen um den eigenen, weniger um den kollektiven moralischen Haushalt. Mich hat zunächst beeindruckt, dass sie die Dinge so begründet haben – gar nicht mit der Sache selbst, die ja im Hinblick auf die Dringlichkeit unstrittig war und ist. Das Publikum hat das begeistert aufgenommen. Man könnte das jetzt als Externalisierung der eigenen Moral auf die Bewunderung von Leuten interpretieren, die nun wirklich ernst machen und handeln. Aber das will ich gar nicht tun, denn es entstand etwas anderes an diesem Abend.

Ich war von der Diskussion an diesem Abend zutiefst frustriert, auch weil diese gebildeten, kultivierten Leute so radikal unrealistisch waren und von ihrer eigenen moralischen Unbedingtheit so gerührt, dass ich kurz davor war, zu gehen. Die beiden Klimakleber, wie man sie nennt, gerieten ein wenig zum entlastenden Kuriosum, deren Nähe fast eine liturgische Funktion hatte. Aber in der weiteren Diskussion wurde etwas deutlich, was mich selbst durchaus verunsichert oder zumindest erstaunt hat. Die beiden einzigen, die in der Diskussion einigermaßen vernünftige Urteile, angemessene Strategien und praktikable Ziele und Vorschläge zu formulieren in der Lage waren, waren diese beiden jungen Männer. Es hat kaum jemand gemerkt – aber es war sehr interessant zu bemerken, dass da nicht einfach naive Leute saßen, die irgendeine Maximalforderung formulierten, die man gefälligst noch heute umsetzen sollte, wie Protestbewegungen eben so reden. Es gab jedenfalls eine Dissonanz zwischen der unbedingten Protestform und ihrem Bewusstsein für die Bedingungen für praktikable Lösungen, die ich nicht aushalten würde.

Sie hatten einen Sinn dafür, dass Lösungen auch für Milieus alltagstauglich sein müssten, die sich nicht den ganzen Tag damit beschäftigen (also auch die, die sie mit ihren Aktionen stören). Sie hatten einen Sinn dafür, dass man nicht einfach naiv wachstums-, konsum- und industriekritisch sein konnte, sondern die Frage beantworten muss, wie Wohlstand, soziale Sicherheit und kontinuierliche Lebensformen mit klimarelevanten Fragen kompatibel gemacht werden können. Sie hatten einen Sensus dafür, dass politisch sich in Demokratien nur durchsetzen kann, wofür man Mehrheiten bekommen kann und dass das etwas mit Überzeugungsarbeit zu tun hat. Sie haben sehr explizit betont, dass man nicht einfach Verzicht durchsetzen kann, weil das jemand tun müsste, ganz abgesehen davon, ob das etwas nützen würde. Und sie haben gefragt, wie man Anreize setzen kann, um bestimmtes Verhalten wahrscheinlicher zu machen – ökonomisch durch Bepreisung und Zertifikatehandel, wissenschaftlich durch Forschungsmöglichkeiten, rechtlich durch schnellere Formen von Infrastrukturmaßnahmen, im Alltag durch Praktikabilitäten – also all das, was derzeit jenseits kulturkämpferischer Attitüden diskutiert werden muss, um dieses existentielle Thema zu bearbeiten.

Sie waren auch fast die beiden einzigen im Raum, die ihre eigene Motivationslage von der Frage der Lösungsstrategien abspalten konnten – sie konnten Engagement und Distanzierung voneinander trennen, was im Raum geflissentlich übersehen wurde. Man konnte mit ihnen auf Augenhöhe diskutieren – und nach der Veranstaltung hatte ich Gelegenheit, mit einem der beiden ziemlich lange weiterzudiskutieren. Ich war wirklich erstaunt – und brachte die abgeklärte, informierte, kreative, sympathische, problembewusste Diagnose nicht mit der Unbedingtheit der Protestform zusammen.

Für mich war das auf jeden Fall ein Anlass für das Überdenken von Vorurteilen – wobei ich die Protestform immer noch für schlicht falsch halte und die Zumutung gegenüber anderen – auch Sicherheitskräften und Feuerwehr gegenüber – niemandem irgendetwas nützt, außer vielleicht einer allzu selbstgerechten Selbstzurechnung, gehandelt zu haben. Die Dissonanz jedenfalls, von der ich am Anfang gesprochen habe, besteht darin, wie man so klug und problembewusst sein und doch eine solche Protestform für einen angemessenen Beitrag halten kann. Ich weiß, die beiden jungen Männer waren sicher nicht repräsentativ für die Mitglieder der Last Generation – ich habe zuvor schon andere kennengelernt, die eher an ihren eigenen Dissonanzen laboriert haben als an der Sache. Und doch gab es zu denken.

Gar nichts jedenfalls lässt sich anfangen mit denen, die ihren eigenen homogenisierten Saft für eine pluralistische Veranstaltung gehalten haben. Manche kleben allzusehr an ihrer eigenen Beobachtungsform – auch das führt zu Blockaden. Beobachtungstheoretisch erweist sich jedenfalls erneut, dass es stets vernetzte Beobachtungen sind, die den Horizont erweitern – weil sie auf die Begrenztheit der eigenen Perspektive verweisen. Ich hatte jedenfalls das Gefühl, dass mein Gesprächspartner eine ähnliche Vernetzungserfahrung gemacht hat wie ich.

Armin Nassehi, Montagsblock /231

24. Juli 2023