Montagsblock /229

Vor 22 Jahren erschien Richard Powers Roman: Schattenflucht auf deutsch. Das Buch ist aktueller denn je. Die perfekte Sommerlektüre in Zeiten digitaler, diffamierender und dystopischer Überhitzung.

 Richard Powers: Schattenflucht. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2006, TB-Ausgabe, 9.95 Euro

Mitten in Seattle. Ein abgeschirmtes Labor, in dem Programmierer, Webdesigner, Hardwarespezialisten und Technikfreaks eine virtuelle Welt erschaffen, gar einen paradiesischen Dschungel erschaffen wollen. Im Realization Lab wird die Welt in virtuellen Bildern nachgebaut. Immense Datenmengen werden bewegt, um realistische Landschaften und Wahrnehmungsräume zu erzeugen. Dreidimensional und für alle Sinne. Stück für Stück, und scheinbar wirklichkeitsgetreu.

„Eine Schlange schlängelt sich durchs Unterholz, glitzert im Licht des Mondes, der sie verfolgt. Imaginäre Rippen schieben die Python voran, Muskeln perfekt bis zur letzten Faser. Die falsche Schlangenhaut glitzert, als du hinsiehst, dein Blick erquickt. Doch diesmal täuscht die Schlange niemanden. So schön sie auch schlängelt, ganz nimmst du es ihr nicht ab. Sie bleibt eine Simulation, ihr Biss in die Ferse kann dir nicht schaden.“

Pure Fantasie alles, zunächst ohne Folgen für den Betrachter. „Hier gibt es nichts, was blutet. Nichts verwest. Nichts zerbricht. Es gibt Schmerz hier, aber kein Leiden. Dinge wachsen, doch nur bis sie in voller Blüte stehen. Alles Fleisch hier hat von den Eidechsen gelernt, wie es sich erneuert. Der Gepard reißt der Antilope nur die halbe Flanke heraus. Dann wächst die Wunde wieder zu.“ Alles wird zu einem riesigen Erprobungsraum, in dem der Irrtum nicht bestraft wird.

„Grizzlybären stehen in der Strömung, schlagen mit den Tatzen nach einem Lachs. Aber sie fischen eher zum Vergnügen als aus wirklicher Not. Jeder Fang wird wieder freigelassen. Auch die Fische verstehen das. Sie wissen, dass es nur ein Spiel ist, denn ob man erwischt wird oder nicht, macht keinen großen Unterschied.“

Draußen indes tobt und schnaubt die Weltpolitik, der Eiserne Vorhang in Europa fällt, der Kommunismus dehydriert und fällt in sich zusammen. Kriege verstümmeln Menschenleiber. Die jedoch bleiben liegen, verwesen und künden skelettiert von unbändiger Grausamkeit.

„Die Weltmaschine lief weiter, im Angesicht des Unerträglichen.“

Die virtuellen Höhlenforscher kümmert dies nur mehr am Rande. Sie transzendieren ihre Träume in Computerkabel und modellieren die Welt nach ihren eigenen Vorstellungen. „Es ist etwas, von dem wir Besitz ergreifen“, glaubt Adie Klarpol, jene Hauptfigur im Roman, die echte Kunstwerke in die virtuelle Realität hineinfälscht. Adie kopiert beispielsweise Henri Rousseaus Dschungelszenen mit flatternden Vögeln und lässt die Dielen in van Goghs „Zimmer in Arles“ knarzen. Schließlich will sie die Kuppel der Hagia Sophia in Istanbul als virtuellen Raum inszenieren, den die Besucher der Höhle in der Schwerelosigkeit erkunden können.

Und so entsteht immer deutlicher ein Weltenraum, in dem sich fast alles ausprobieren und neu denken lässt. New Digital Romantic in ihrer perfidesten Allmachtsfantasie!

„Jahrhundertealte Streitfragen enden mit Versöhnung. Straffällige finden im Gefängnis den Roman, der ihr Leben verändert, Erzählungen in glühenden Farben, die ihnen ausmalen, dass es sich lohnt, das Leben anzupacken. Jeder Tag endet mit einem spektakulären Sonnenuntergang, erhebend oder erschütternd.“

Richard Powers ist aber viel zu schlau, um diesen letzten Fantasien, die ohne Einfluss auf das Reale bleiben, zum Popanz aufzubauen. Deshalb hat er sich für die Real World einen eigenen Handlungsstrang hinzugebaut. Taimur Martin, ein amerikanischer Fremdsprachenlehrer im Libanon, wird eines Tages auf offener Straße überfallen und als Geisel genommen. Vier Jahre lang wird er in einem Loch gefangen gehalten, angekettet, wie Vieh getränkt und gefüttert, bevor er entsetzt und entstellt wieder frei gelassen wird. Taimur erschafft sich, um die Demütigungen und Verletzungen zu überleben, ebenfalls eine virtuelle Bilderwelt. Jedoch immer wieder unterbrochen von Schlägen, Krankheiten und grenzenlosem Leid. Erst als er auf langes Bitten hin ein Buch zum Lesen bekommt, hebt sich langsam der Schleier hin zur eigenen Fantasie.

Powers skizziert eindringlich den abscheulichen Alltag von Geiseln. Währenddessen philosophieren die virtuellen Höhlenforscher im schmelzigen Seattle-Sommer munter vor sich hin. Dem Endsieg der Fantasie sei man nahe, wie Spiegel, der Chef der Truppe, raunzt.

„Du weißt, woran wir in Wirklichkeit arbeiten, nicht wahr? An der Zeitmaschine. Dem Transporterstrahl. Bilder, die sich in die dritte Dimension ausbreiten; ein großes Gedicht, in dessen Innerem wir leben können. Das ist der Gral, den wir suchen, seit zum ersten Mal jemand am Lagerfeuer eine Geschichte erzählt hat. Der Sieg über Zeit und Raum.“

Den erringen aber schließlich die US-Militärs mit ihrem Angriff auf den Irak, Operation Wüstensturm. Die Wirklichkeit okkupiert emotionslos die Errungenschaften des Realization Labs. Plötzlich erklären Stabschefs mit Multimedia-Clips der Weltöffentlichkeit das Prinzip der virtuellen Realität.

„Babylon wurde zur Bitmap. Piloten zerstreuten seine Sandkörner in alle Winde, Pixel für Pixel, ihre Soldatenleiber mit elektronischen Nabelschnüren an Waffensysteme gebunden, jede Bewegung des Joysticks über Jahre in Simulationen trainiert, die nun Wirklichkeit geworden waren. Es war der perfekte Krieg.“ „Wir haben das gemacht. Das ist unsere Schuld“, stammelt Adie letztlich beim Anblick der Fernsehbilder.

Powers hat vor über 20 Jahren bereits den Schlüsselroman zur Cyberworld geschrieben. Es zerrt den Leser hinter die Welt computeranimierter Hollywood-Spektakel, vernetzt geschickt die Annahmen der Cyberworld mit den grausamen Befunden der Real World. In dieser Gegenüberstellung werden dunkle Mächte sichtbar, denen heftigst auf die Finger geschaut werden sollte.

Peter Felixberger, Montagsblock /229

10. Juli 2023