Elon Musk hat den Zugriff auf Tweets durch Twitter-User, abgestuft in drei Gruppen (verifizierte, nicht-verifizierte, neue nicht-verifizierte accounts) stark begrenzt. Man konnte demnach – „temporary“ – zunächst nur noch je nach Gruppe 6.000, 600 oder 300 Tweets pro Tag lesen, inzwischen wurde das stufenweise wieder erhöht. Die Begründung lautet: Es soll Datenscraping und Systemmanipulation entgegenwirken. Ob man das glauben soll? Angeblich soll es das Abgreifen von Daten sein, dem diese Sperre entgegenwirken soll, und der Nutzung von Twitter-Daten zum Training von KI-Anwendungen. Vielleicht ist es auch das Ergebnis eines gescheiterten Abwehrversuchs. In einem Tweet bittet Musk selbst um Vorschläge, wie man den Zugriffen begegnen könne. Zumindest das ist ein ungewöhnlicher Vorgang.
Ob es sich um eine weitere Bullshitterei dieses angeblichen Genius handelt, um eine Marketingmaßnahme für blaue Haken oder ob etwas dran ist – die Reaktionen darauf sind schon interessant. Als ich selbst am Samstag nachmittags feststellte, dass ein Zugriff auf Tweets beschränkt wurde, dass etwa Verläufe von Reaktionen nicht mehr lesbar waren, dass man nicht mehr mit dem Medium umgehen konnte wie sonst, war das eine Störung ganz eigener Art. Twitter ist ein merkwürdiges Medium. Schon durch die starke Begrenzung der Zeichenzahl erzeugt es eine ebenso konzentrierte wie beiläufig wirkende Form. Es erzeugt eine niedrigschwellige Form des Zugriffs und lebt davon, gewissermaßen der Evolution von Rede und Gegenrede, von Assoziationsketten, von Selbstdarstellungen und ihren Dekonstruktionen, von Bestätigungsräumen und Kuriosem zuzuschauen – und den anderen beim Zusehen zuzusehen. Das Attraktive daran ist, dass man fast nie findet, was man sucht, aber etwas findet, was man womöglich gesucht hätte, hätte man davon gewusst. Twitter-Kommunikation nutzt die Anschlussoffenheit von Kommunikation geradezu offensiv aus. Sie wird nicht gestört durch physische Wahrnehmung, Anwesenheit oder Platz für Argumente (wie etwa bei Facebook) und auch nicht durch Bilder wie bei Instagram. Es ist eher reduzierte Kommunikation, Anschluss an Anschluss, kaum Hürden, eigentlich unzivilisiert. Dass das Ganze algorithmengesteuert ist und es keineswegs Zufall ist, was man zu sehen bekommt und was nicht, ist hier schon eingepreist. Denn das Ganze funktioniert nur dann, wenn man die strukturierenden Eingriffe nicht sieht, wenn sie latent bleiben.
Ich definiere Zivilisation als einen Mechanismus, der mich daran hindert, alles zu sagen, was ich denke – Twitter schafft es oft genug, genau das partiell außer Kraft zu setzen, weil es die sozialen Hemmschwellen des Bildes, des Arguments und der Wahrnehmung bisweilen suspendiert. Nirgendwo kann man sich so um Kopf und Kragen reden wie auf Twitter – aber nirgendwo ist auch die Chance so groß, dass kleine Unerwartbarkeiten ganze Ereignisketten mit einem Mal neubestimmen. Twitter ist ein Medium, in dem Kommunikationsversuche sofort ihren Richter finden: im nächsten Tweet, in der Antwort, im Zitat.
Twitter dürfte die Plattform sein, in der die Logik der sozialen Medien am deutlichsten sichtbar wird: Es sieht in der Kommunikation so aus, als setze man etwas in die Welt und bekomme darauf Antwort – oder man antwortet selbst, und es sieht aus wie ein Zwiegespräch. Aber es sieht nur so aus, denn jegliche Form der Kommunikation auf Twitter lebt davon, dass es stets einen dritten Adressaten gibt, der nicht konkret adressiert wird. Und das ist auch die Beobachterposition, die man auf Twitter hat: Man sieht den anderen beim Zusehen zu. Man beobachtet Beobachtungen. Man nimmt wahr, wie Leute wahrgenommen werden wollen – ohne zu sagen, dass sie wahrgenommen werden wollen. Und dieses „Wollen“ müssen sie gar nicht als konkreten Gedanken wollen, weil ihnen der Wille durch die Praxis von Twitter schon unterstellt wird – wiederum nicht von Leuten, sondern von der Praxis selbst, die das ermöglicht.
Auf Twitter etwas zu schreiben, ist eine interessante Einübung in eine gewisse Form der mitlaufenden Selbstbeobachtung aus mehreren Perspektiven. Es ist eine Information, für wen etwas eine Information von wem ist. Und es ist ein Vergnügen, dabei zuzusehen, wie sehr mancher Tweet eine Unmittelbarkeit erzeugt, die man sonst selten zu sehen bekommt. Wäre man unvorsichtig, würde man das wohl eine Form der Authentizität nennen, aber das würde ja nur daran vorbeisehen, dass die Differenz von Sagen und Meinen tatsächlich und stets eine hochvoraussetzungsreiche Differenz ist, über die man viel sagen kann – was wiederum nicht die Lösung, sondern das Problem ist. Man kommt nicht aus der Bredouille raus, das Inszenatorische des Authentischen mitzusehen.
Die Unterbrechungen, die Musk aus welchen Gründen auch immer eingezogen hat, machen das zunichte – und darin besonders sichtbar. Es ist kein Zufall, dass Musk sich ausgerechnet Twitter ausgesucht hat, um seine libertäre Version von freedom of speech zu inszenieren – es setzt sich eben durch, was sich durchsetzt, was ist (angeblich) egal. Diese Idee von freedom ist gewissermaßen das freieste Spiel aller Kräfte – und taugt dann eben besonders als Symbol für eine angebliche Gängelung, Begrenzung, Kontrolle und Einhegung von Freiheit und Redefreiheit. Für diese Denkungsart ist die Welt selbst schon eine Art Cancel Culture, weil sie schon aus logischen Gründen Vieles ausschließen, negieren muss – Bestimmtes und Unbestimmtes. So gesehen ist Musk genau dort, wo er hingehört: Er kann vorführen, dass sich Freiheit erst durchgesetzt haben wird, wenn es keine Grenzen mehr gibt – zumindest keine Grenzen des Sagbaren. Dass sich das womöglich mit zivilisatorischen Standards beißt – geschenkt, denn das ist ja gerade das Experiment, es all den Leuten zu zeigen, die die Freiheit angeblich mit Füßen treten.
Und ausgerechnet auf diesem Medium nun muss die Notbremse gezogen werden, weil die völlige Deregulierung des Geschehens auf der Plattform ihre Existenz gefährdet. Ob es technisch wirklich so ist, sei dahingestellt. Das kann ich nicht beurteilen, und es dürfte von außen auch kaum angemessen einzuschätzen sein. Aber ob es stimmt oder nicht – es ist eine schöne Geschichte, die Musk ja selbst erzählt: Wenn man das völlig freie Spiel der Kräfte nicht wenigstens ansatzweise gestaltet, wendet es sich gegen sich selbst. Wenn es nicht so schön wäre, müsste man die Geschichte genau so erfinden.
Aber sie ist damit noch nicht auserzählt, denn zur Wahrheit gehört auch, dass die Beschränkung, die die Nutzung von Twitter letztlich sinnlos macht und die Plattform zerstören würde, müsste sie beibehalten werden, wirklich unangenehm ist. Und gerade die Nutzer, die Musk am meisten kritisieren und ihn (zu Recht) für einen Clown ohne Grenzen halten, zeigen sich geradezu beleidigt, weil sie in ihrer eingespielten Praxis gestört werden.
Die Nutzung von Twitter lebt davon, zivilisatorische Beschränkungen zu suspendieren, sie lebt davon, dass dort das Unangemessene passiert, sie lebt davon, dass man nicht findet, was man sucht, sie lebt davon, dass man mit Leuten zu tun hat, die man im richtigen Leben nicht treffen möchte. Wir kritisieren zu Recht Belästigungen und Beleidigungen, politisch zweifelhafte Kampagnen, gezielte Propaganda und all das, was die Dinge unappetitlich macht. Aber zur Praxis gehört auch, genau damit zu spielen, dass Kommunikation auf Twitter eben nicht einfach ein ins Netz gewanderter Plausch unter Leuten ist, die sich (auch kontrovers) über etwas unterhalten und durch die üblichen Formen wechselseitiger Zivilisationsregeln zu sozialverträglichen Existenzen werden.
Die angeblich technisch bzw. durch Angriffe auf die Plattform verursachte Störung jedenfalls macht darauf aufmerksam, dass die Nutzung einer solchen Plattform weniger unschuldig ist, als es auf den ersten Blick aussieht. Die gegenwärtige Störung jedenfalls macht auf etwas aufmerksam, was sonst nur latent bleibt: dass das Attraktive an der Plattform das ist, was wir meistens kritisieren.
Man wäre ein romantischer Optimist, würde man von der Störung – sollte sie nicht nur einer Laune des Genius entsprungen sein – erwarten, dass Elon Musk ernsthaft darüber nachdenkt, wie die Plattform einen angemessenen Weg zwischen Variationsbreite und Regulierung findet. Wahrscheinlicher ist, dass es am Ende entweder nur ein Verifizierungsmarketing ist oder aber ohnehin eine Spielwiese für jemanden, der damit wohl schon eine ganze Menge Geld vernichtet hat. Zu kritisieren, hier gehe es in erster Linie ums Geschäft oder gar Gewinn, verkennt womöglich, dass es ab einem bestimmten Level darum wohl kaum mehr gehen kann. Vielleicht sollte man sich wünschen, dass es nur ums Geldverdienen geht, denn die libertäre Agenda von Musk in Kombination mit einer Kontrollmöglichkeit über folgenreiche Kommunikation ist das eigentliche Problem. Ich gebe trotzdem zu, dass ich froh bin, wenn Twitter bald wieder all das zeigt, was ich beim besten Willen nicht sehen will.
Armin Nassehi, Montagsblock /228
03. Juli 2023