Montagsblock /225

Warum steht die AfD derzeit in den Umfragen gleichauf mit der SPD, bei fast 20 Prozent? Warum ist sie in den meisten süddeutschen Wahlkreisen inzwischen fast flächendeckend zweite Kraft? Am Angebot zur Lösung von Sachproblemen kann es nicht liegen.

Man hätte gerne kausale Erklärungen dafür, am liebsten Schuldige. Für die einen ist ausgemacht, dass es die „Woken“ sind, die mit ihren Themen die „normalen Leute“ verrückt machen, für die anderen liegt der Höhenflug der AfD daran, dass die Konservativen in der CDU/CSU der AfD zu sehr entgegenkommen (oder aber: sie nicht konservativ genug sind) und dann als Effekt herauskommt, dass die Wählerinnen und Wähler dieses rechtskonservativen Spektrums lieber gleich das Original wählen und nicht die Konservativen. Diese Argumente sind bekannt – und genau genommen interessieren sie sich gar nicht für die AfD, sondern betreiben das übliche politische Geschäft, dem jeweils anderen Lager die Verantwortung zuzuschieben.

Es reicht ein Blick in die neuesten Wählerstromanalysen (wahlkreisprognose.de), um beide Erklärungen als zu kurz gesprungen anzusehen. Natürlich sind AfD-Wähler von den sogenannten „woken“ Themen genervt, aber das sollte kaum erstaunen, denn es ist ihr Geschäftsmodell; und natürlich halten sie die Konservativen aus der Union für zu mittig, auch das kann nicht erstaunen und stabilisiert letztlich den Gründungsmythos der Partei. Interessanterweise gibt es in den Analysen vergleichsweise nur wenig Bewegung von den demokratischen Parteien hin zur AfD – das starke Wachstum in der Anhängerschaft speist sich vor allem aus dem Reservoir der Nichtwähler. AfD-Wähler scheinen, dieser Schluss liegt empirisch nahe, eine homogenere Gruppe zu sein, als es zunächst erscheint, und auch eine, die nicht von Wechselwahlverhalten geprägt ist. Der Mythos vom Protestwähler dient ja auch dazu, von den Inhalten eher abzusehen und zu proklamieren, man wolle den Etablierten diesmal eine Lehre erteilen, um sie danach wieder zu unterstützen. Dieser Aspekt spielt sicher eine Rolle, aber dagegen spricht durchaus, dass es kaum Wechselpräferenzen sind. 30 Prozent der Umfragezuwächse seit der Bundestagswahl von vor eineinhalb Jahren lassen sich bei der AfD durch damalige Nichtwähler erklären, von der SPD und der CDU/CSU gibt es nur sehr moderate Zuwächse, von der FDP kaum und von den Grünen gar keine.

Man kann daraus wohl den Schluss ziehen, dass das Potential der AfD gerade nicht in den Reservoirs anderer Parteien liegt, sondern eine Mobilisierungsfrage ist. Wie gesagt, Kausalitäten lassen sich nicht wirklich benennen, aber es gibt durchaus Hinweise darauf, dass das potentielle Milieu der AfD – im Osten zirka 30 Prozent, im Westen zirka 16 Prozent – vergleichsweise homogen ist und die Leute gerade nicht von den anderen Parteien wegzieht. Die Wählerinnen und Wähler scheinen zu wissen, dass sie eine rechtsnationale Partei wählen, deren kommunikativer Anker vor allem eine generelle Elitenkritik ist – ein typisch populistischer Move, der die „eigentlichen“ Aspirationen des „Volkes“ abgehobenen elitären Akteuren gegenüberstellt. Die AfD macht jedenfalls kaum den Versuch, zu kaschieren, wessen Geistes Kind sie ist.

Wenn man eine Erklärung wagen möchte, dann zeugt das Potential der AfD von einer politischen Opposition, die zwar innerhalb der politischen Institutionen situiert ist und in den nächsten Wahlen in ostdeutschen Bundesländern stärkste Fraktion werden kann. Aber genau genommen ist es eine Opposition nicht innerhalb, sondern gegen die politischen Institutionen und Verfahren. Insofern kann weder die Zurechnung auf das „Woke“ noch auf ein zu starkes Entgegenkommen der AfD gegenüber als Erklärung dienen, sondern ganz offensichtlich der erfolgreiche Hinweis auf einen erlebten und behaupteten Kompetenzverlust der politischen Spieler. Hier sitzen die Ampelparteien und die große Mitte-Rechts-Partei in einem Boot: Die einen machen zumindest nach außen den Eindruck, als könnten sie ihre Ziele nicht erreichen, die anderen nutzen diese Schwäche aus, sind sich aber zugleich völlig unsicher darin, wie sie mit dem von der Merkel-CDU erreichten Liberalisierungsschub umgehen sollen. Sie machen jedenfalls alle kaum den Eindruck, zu wissen, was sie wollen.

Die politische Dynamik ist auf etablierte Konflikte angewiesen – die Demokratie lebt davon, dass die opponierenden Kräfte reziprok und komplementär aufeinander bezogen sind sowie Konflikte stabilisieren und die Dinge kalkulierbar machen. Davon kann derzeit nicht die Rede sein – und es wäre naiv, dieses nun einzufordern und von den politischen Opponenten zu verlangen, sich komplementärer zu streiten. Das wäre kurzsichtig und unpolitisch. Wahrscheinlich ist es eher ein Problem, dass die politischen Konflikte nicht zu den Krisen und Herausforderungen passen. Schon mein letzter Montagsblock hat es angemahnt: Wenn es nicht gelingt, um gangbare Alternativen zu streiten, bleibt der politische Streit bei den symbolischen Themen und entlastet sich von den Sachfragen. Das Bezugsproblem der Demokratie ist nicht so simpel, als gehe es nur um eine Repräsentation von politischen Lagern, und das möglichst lückenlos. Politische Lager und Oppositionen sind eine Eigenleistung des politischen Systems. Und die Demokratie lebt davon, legitime Alternativen zu präsentieren und damit Sachfragen mit einer ausreichenden Bandbreite von Lösungsmöglichkeiten auszustatten. Wo das nicht geht, erscheint einem ansonsten nicht politisierbaren Reservoir von Wählern gerade eine politische Kraft als Alternative, die nicht nur an die niederen Instinkte generalisierter Elitenkritik anschließt, sondern auch kein einziges Konzept für die Lösung von Sachfragen bereithält. Das ist eine wirklich emanzipatorische Kraft: Sie emanzipiert sich von Sachfragen und kann eine wirkliche Opposition aufbauen: die Eliten, die wahrscheinlich vom Ortsbürgermeister bis zum globalistischen Finanzjudentum reichen, um in der entsprechenden Folklore zu bleiben.

Beredter Ausdruck dieser Gemengelage wird sein, dass nach den nächsten Landtagswahlen zumindest in einigen ostdeutschen Bundesländern Koalitions- oder Minderheitsregierungen gebildet werden müssen, um die stärkste Partei nicht an der Regierung beteiligen zu müssen. Das wäre in der Tat fast so etwas wie eine Bestätigung für die Rechtspopulisten: dass die Etablierten letztlich nicht auseinanderzuhalten sind.

Armin Nassehi, Montagsblock /225

12. Juni 2023